pflegen-online: In einer Befragung unter examinierten Pflegekräften in Sachsen sprach sich 2011 eine große Mehrheit für eine Pflegekammer aus. Hat die Zustimmung zu Pflegekammern angehalten?
Michael Junge: Ich hoffe, dass die Stimmung sich nicht verändert hat und es immer noch eine große Zustimmung zu einer Pflegekammer gibt. Nötig ist sie dringender denn je. Wir müssen feststellen, dass die Rahmenbedingungen für beruflich Pflegende immer enger werden. Genau hier würde eine Kammer ja ansetzen und sich aktiv und – da können Sie sicher sein - auch laut wahrnehmbar für eine Veränderung eintreten. Letztendlich entscheiden Pflegende dann selber über die Ausgestaltung ihres Berufes und wären mit einer Pflegekammer im Rücken nicht mehr zu ignorieren. Sie hätten ein großes Gewicht, wenn es um ihren Beruf geht. Fremdbestimmung hört dann auf!
Gibt es womöglich neue Umfrageergebnisse?
Neue Befragungsergebnisse liegen mir nicht vor. Allerdings denken mehrere Landtagsparteien laut über die Durchführung einer neuen Befragung nach.
Jobportal pflegen-online.de empfiehlt:
Hätte eine eigene Kammer für Ihr Bundesland in der aktuellen Corona-Pandemie einen Unterschied gebracht?
Eine Pflegekammer hätte in der aktuellen Situation die pflegerischen Reserven gekannt, Personen und Institutionen angesprochen und die vielen Freiwilligen für die Leistungserbringer übergeordnet koordiniert.
Auch die Durchführung von Kursen zur maschinellen Beatmung und zur kurzfristigen Rückkehr in den Beruf hätte eine Kammer übernehmen können – wenn sie denn existieren würde. Ohne dies Möglichkeit bleibt es ein Bitten und Hoffen, dass genügend Freiwillige – da, wo sie gebraucht werden – sein werden. Die Koordination dieser Hilfe wird weiterhin dezentral erfolgen müssen und an vielen Stellen auch nicht zuverlässig ankommen. Es ist nicht mehr die Frage „ob“, sondern lediglich die Frage „wann und wie“ eine Pflegekammer in Sachsen zu gründen ist.
In Niedersachsen verlief die Einrichtung einer Pflegekammer nicht ganz glatt. Kritik wurde vor allem von den Betroffenen laut, die sich über zu hohe Pflichtbeiträge beklagten. Wie ist dies in Sachsen aufgenommen worden? Hat das die Skeptiker womöglich gestärkt?
Ich bin sicher, dass die Bedenken gegen eine Pflichtmitgliedschaft überall vorhanden sind. Sicher auch in Sachsen, und ich kann diese auch gut nachvollziehen. Was immer vergessen wird, ist: Wir als Pflegende entscheiden über die Ausgestaltung der Kammerbeiträge. Und ja, diese sind Pflichtbeiträge. In den vorhandenen Kammern liegen sie bei durchschnittlich 10 Euro pro Monat. Ich denke, das ist ein angemessener Beitrag für eine starke Stimme für den eigenen Beruf.
Könnten die Interessen der Pflegekräfte nicht auch durch eine Gewerkschaft vertreten werden?
Ich glaube, dass eine Kammer genauso wichtig ist wie eine starke Gewerkschaft für Pflegende. Wenn beide genug Kraft haben, die Gewerkschaft genauso wie eine Kammer, dann können Pflegende nur davon profitieren. Wir werden dann auch spürbare Verbesserungen für beruflich Pflegende erreichen: die Verhandlung höherer Löhne und Gehälter durch die Gewerkschaften und die Ausgestaltung des Berufes durch die Kammer.
Wann, glauben Sie, wird es in Sachsen zu einer Pflegekammer kommen?
Da möchte ich ungern Orakel spielen. Ich hoffe, dass die neue Landesregierung das Thema oben auf die Agenda setzt, um ein Zeichen für eine nachhaltige Stärkung beruflich Pflegender zu setzen, und dass wir in dieser Legislaturperiode dazu kommen, eine Kammer zu gründen. Wir sollten In Sachsen angesichts der großen Herausforderungen in der Pflege im Freistaat nicht warten, bis alle anderen eine Kammer gegründet haben, sondern jetzt die Kammergründung in die Wege leiten.
Welche Bedingungen fehlen noch, um eine Pflegekammer einzurichten?
Schlicht und ergreifend ein klares politisches Bekenntnis zur Stärkung beruflich Pflegender durch eine Kammergründung und darauf aufbauend ein Beschluss des Landtages als gesetzliche Grundlage.
Interview: Birgitta vom Lehn
Zur Person
Michael Junge (39) ist Pflegedirektor am Diakonissenkrankenhaus Dresden und hat berufsbegleitend ein Studium der Pflegewissenschaften und -management an der Ev. Fachhochschule Dresden absolviert. Als Als Stipendiat der Robert-Bosch-Stiftung wurde der Kinderpkrankenpfleger 2007 in das internationale Hospitationsprogramm „Pflege und Gesundheit“ aufgenommen.
Die Situation der Pflege in Sachsen
Laut Statistischem Landesamt Sachsen arbeiteten im Freistaat im Dezember 2015 rund 62.000 Personen in ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen. Der Großteil der Beschäftigten – 85,6 Prozent – war weiblich. Seit 1999 hat sich damit der Beschäftigtenanteil in der Altenpflege insgesamt mehr als verdoppelt (um 112 Prozent). Hier geht's zum Report Pflege in Sachsen des Statischen Landesamtes Sachsen