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Demenz

Demenziell Erkrankte nicht ruhigstellen!

In der Gerontopsychiatrie der Rheinhessen-Fachklinik Alzey erhalten Menschen mit Demenz statt Psychopharmaka  eine bedürfnisorientiert Therapie. Was genau darunter zu verstehen ist, erklärt  Pflegeexpertin Imane Henni-Rached

pflegen-online: Frau Henni-Rached, Sie haben auf Ihrer Station das Projekt NeeDz mit ins Leben gerufen und sagen, dass es meist unbefriedigte Bedürfnisse („Needs“) sind, die herausfordernde Verhaltensweisen bei Menschen mit Demenz („Dz“) auslösen. Wesentlicher Teil Ihres Ansatzes ist das begleitete Absetzen von Psychopharmaka. Warum ist das so wichtig?

Imane Henni-Rached: Die meisten demenziell erkrankten Menschen, die aufgrund von herausforderndem Verhalten in die stationäre Gerontopsychiatrie eingewiesen werden, haben zuvor bereits Psychopharmaka erhalten – um sie ruhigzustellen. Wir widersprechen dieser gängigen Haltung und fokussieren stattdessen auf das Bedürfnis des Patienten, das hinter seinem Verhalten steht. Und das können wir nur erkennen, wenn wir insbesondere jene Psychopharmaka absetzen, mit denen im Vorfeld versucht wurde, das herausfordernde Verhalten zu reduzieren.

Ohnehin steht der Einsatz von Psychopharmaka bei der Behandlung von Menschen mit Demenz ja schon länger in der Kritik.

Wir wissen doch, dass jemand, der beispielsweise eine Parkinson-Demenz hat, durch Neuroleptika noch weiter in seiner Mobilität beeinträchtigt wird. Das ist ein durchaus häufiges Problem. Dagegen kommt jemand, der sich bereits in einer schweren Demenz befindet und ein agitiertes Verhalten zeigt, durch ein sedierendes Medikament oftmals gar nicht zur Ruhe. Es kann sein Bedürfnis – beispielsweise, dass er nach Hause möchte – nicht stillen. Er wird nur müde und sturzgefährdet.

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Um das Bedürfnis hinter dem herausfordernden Verhalten zu erkennen, setzen Sie auf verstehende Diagnostik. Ist das im Grunde ein bisschen wie Detektivarbeit?

Ja, man muss auf Spurensuche gehen. Wenn wir einen Patienten aufnehmen, erstellen wir, zusammen mit den Angehörigen oder versorgenden Pflegekräften, zunächst eine biografische Anamnese. Es hilft zu wissen, wie der Mensch vor seiner Erkrankung war und wie er in Stresssituationen reagiert hat. Vor diesem Hintergrund lassen sich Bedürfnisse eher verstehen und leichter die passenden psychosozialen Angebote finden. Wichtig ist auch, nicht nur auf die aktiven herausfordernden Verhaltensweisen zu fokussieren. Man muss genauso wahrnehmen, wer sich zurückzieht, Nahrung oder Medikamente verweigert, um auch solche Patienten wieder in den Alltag integrieren zu können.

Gibt es auch vermeintlich banale Gründe, auf die Sie immer wieder als Erklärung für herausforderndes Verhalten stoßen?

Ganz oft entdecken wir schon im ersten Schritt somatische Ursachen. Häufig sind es Harnwegsinfekte, die mit Antibiotika behandelt werden müssen. Das heißt, man sollte wirklich ganzheitlich denken: Wenn jemand nachts nicht schläft, sondern fünfmal zur Toilette drängt – dann sollte man als Pflegekraft so erfahren und fachkompetent sein, dass man darin nicht zuallererst herausforderndes Verhalten erkennt, sondern den Urinstatus prüft.

Werden andere Bedürfnisse oder Ursachen ähnlich leicht übersehen?

Tatsächlich kommt es häufig vor, dass jemand, der unruhig ist, schlicht zur Toilette muss. Ein Mensch mit Demenz, der die Toilette nicht mehr findet, gleichzeitig aber nicht zu sagen vermag, dass er dorthin möchte – das ist eine typische Konfliktsituation für ihn. Sehr oft sind auch Schmerzen ein Thema. Es gibt Studien, die belegen, dass Menschen mit Demenz sehr viel seltener Schmerzmittel erhalten als Menschen ohne Demenz.

Und wie sieht es bei den Auslösern von aggressivem Verhalten aus?

Fremdaggressives Verhalten kann leicht zu einer Einweisung führen. Weil auch hier oftmals allein auf das Verhalten fokussiert wird. Es gibt die Fälle, dass Ärzte einen Patienten als aggressiv einschätzen und zum Beispiel Risperidon (atypisches Neuroleptikum, das vor allem bei Schizophrenien oder bipolaren Störungen eingesetzt wird, Anm. d. Red.)  anordnen, obwohl sie nur einen kurzen Ausschnitt aus der Gesamtsituation erlebt haben. Vielleicht gab es aber einen Auslöser, der begründet, warum dieser Mensch aggressiv und abwehrend war – etwa, dass er nicht verstanden hat, dass der Intimbereich gewaschen werden sollte, und deshalb geschlagen hat. Letztlich gehört es zum Krankheitsbild, dass ein Mensch, der kognitiv beeinträchtigt ist, Situationen verkennt – und was ihm dann hilft, ist ein Gegenüber, das sensibel und individuell auf ihn eingeht. Eine Fehleinschätzung oder Fehlinformation von Angehörigen oder Heimen zieht unter Umständen eine Fehlbehandlung durch den Arzt nach sich?

Das passiert. Und man muss sich ja auch fragen: Ist es denn eigentlich ethisch vertretbar, jemanden, der schon sehr schwer dement ist, in die Gerontopsychiatrie einzuweisen, damit er medikamentös eingestellt wird? Wir brauchen Pflegekräfte, die sich mit Demenz gut auskennen und die wissen, dass beispielsweise wahnhaftes Verhalten gerade bei mittelschwer dementen Menschen als Teil der Krankheit auftreten kann – denn ihnen ist dann auch klar, dass so etwas nicht medikamentös behandelt werden muss. Der mit einer Einweisung verbundene Setting-Wechsel, die ungewohnte Umgebung schürt ja eher noch, dass sich Delirien entwickeln. Und in vielen Fällen ist das Psychopharmakon einfach überflüssig.

Wenn aber die verstehende Diagnostik einer Spurensuche gleicht – ist sie dann im Pflegealltag wirklich zu leisten?

Man muss sich überlegen: Ob ich nun an den Computer gehe, dort nachschaue, was der Patient oder Bewohner in der Bedarfsmedikation stehen hat, dann zum Schrank laufe, das Medikament heraushole, es anschließend verabreiche und auf den Wirkeintritt warten muss, sofern das Mittel denn überhaupt wirkt – warum sollte ich diese Zeit nicht stattdessen für einen persönlichen Kontakt über zehn, fünfzehn Minuten nutzen und eine Aromatherapie oder eine Handmassage machen? Das mag banal klingen, ist aber ganz oft das, was die Menschen brauchen – und was wir ihnen zu wenig geben.

Welche psychosozialen Interventionen sind Ihrer Erfahrung nach besonders hilfreich?

Die MAKS-Therapie ist sehr wirksam bei herausforderndem Verhalten – auch zur Prävention. In den Gruppentherapien sehen wir zudem, dass selbst schwer demente Menschen sehr gut auf Musik reagieren, auf Lieder, die sie von früher kennen. Ganz wichtig sind auch Rituale, zum Beispiel vor dem Schlafen. Eine Gute-Nacht-Geschichte, ein Lied oder die Einreibung mit einem Lieblingsöl signalisieren dem demenziell erkrankten Menschen, dass der Tag zu Ende ist und er zur Ruhe kommen kann.

Ein weiteres Beispiel?

Auch die tiergestützte Therapie berührt die Menschen sehr. Das kann ein Therapiehund sein, der sich gern streicheln lässt, oder auch eine Therapiepuppe. Wir nutzen künstliche Hunde und Katzen, die aussehen, als würden sie atmen. Selbst mit solchen Puppen fühlen sich die Menschen weniger allein – denn natürlich wird man es nie schaffen, permanent in einem Eins-zu-eins-Kontakt zu sein. Doch die Kombination aus beidem hilft.

Wenn man allerdings eine Intervention durchführt und merkt, dass sie nicht hilft: Dann war es im Einzelfall vielleicht einfach nicht das passende Angebot. Deswegen lohnt es sich immer, mindestens drei psychosoziale Maßnahmen auszuprobieren.

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Und wie geht es weiter, wenn Sie einen Patienten entlassen?

Wir entlassen jeden Patienten mit einer Handlungsempfehlung, die alles enthält, was ihm gut geholfen hat. Das versuchen wir, noch zu optimieren: Künftig würde ich unsere Empfehlungen gern als Video weitergeben, sodass sich die Pflegekraft im Heim einfach einen dreiminütigen Film ansehen kann. So könnten wir auch die Gegenstände zeigen, die wir genutzt haben. Denn noch erhalten wir aus den Heimen teilweise schon die Rückmeldung: Irgendetwas haben Sie falsch gemacht – der Bewohner ist ja immer noch total unruhig. Da widersprechen sich die Erwartungen. Letztlich kommen die Patienten ja zu uns, weil sie vermeintlich eine Medikationseinstellung bekommen sollen; wir hingegen möchten bedürfnisorientiert sein. Und was zu selten gesehen wird: Auch das Absetzen von Medikamenten ist ja eine Einstellung des Patienten.

Das heißt, es bräuchte eine engere Zusammenarbeit mit Pflegeeinrichtungen und Angehörigen oder teilweise vielleicht auch eine Hilfestellung vor Ort?

Genau das wünschen wir uns. Unser Ziel ist, dass Kooperationen mit den Pflegeeinrichtungen entstehen. Ich freue mich über jedes Heim und jede Pflegekraft, die offen sind für unsere Herangehensweise – sie können jederzeit Kontakt mit mir aufnehmen.

Haben Sie zum Schluss noch einen praktischen Tipp?

Menschen mit Demenz nicht zu unterschätzen und zu glauben, dass sie gar nichts mehr können und verstehen  – oder dass sie keine Bedürfnisse mehr hätten. Unsere Betreuungskraft geht beispielsweise bewusst nicht mit in die Übergabe. Sie nimmt die Menschen stattdessen so, wie sie sind – und will gar nicht wissen, welche Erkrankung sie haben. Diese Unvoreingenommenheit ist manchmal wahnsinnig heilsam.

Interview: lin

Über Imane Henni-Rached

Die Pflegeexpertin (M.Sc. Advanced Practice Nursing) und Fachpflegerin für palliative Versorgung arbeitet in der Gerontopsychiatrie der Rheinhessen-Fachklinik Alzey. Der dort implementierte NeeDz-Prozess eignet sich für Menschen mit einer Demenz gemäß ICD F00–F03 und G30, die herausforderndes Verhalten zeigen. Pflegeeinrichtungen, die mehr über verstehende Diagnostik und die evidenzbasierten Interventionen erfahren möchten oder an einer Kooperation interessiert sind, können sich direkt an Henni-Rached wenden:

Imane Henni-Rached Telefon: 06731 501830 E-Mail: i.henni-rached@rfk.landeskrankenhaus.de

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