Foto: jens schuenemann jps-berlin.de

Medikamente im Alter

Medikamente – nimm maximal drei!

Wenn alte Menschen stürzen, verwirrt sind oder innerlich bluten, dann liegt das oft auch an Nebenwirkungen von Medikamenten. Vier Projekte in Pflegeheimen zeigen, dass es auch anders geht - und, dass Patientensicherheit auch in der Altenpflege ein Thema ist

[Der Artikel erschien zuerst im Mai 2018 und wurde im November 2020 aktualisiert]

Die Pillendöschen auf den Nachtschränkchen deutscher Pflegeheime sind gut gefüllt. Es gibt schließlich so vieles, was bei einem alten Menschen nicht mehr richtig funktioniert und wogegen er morgens, mittags, abends und nachts laut ärztlicher Anweisung etwas schlucken soll: gegen Alterszucker, Bluthochdruck, Osteoporose, Herzschwäche, Unruhe und so fort.

Wichtig: ein kritischer Apotheker oder Geriater

Die Sache scheint damit klar: Je älter der Bewohner, desto mehr Pillen sind nötig. Bei jedem neuen Leiden kommt ein weiteres Pillchen dazu. Genau hinschauen und überprüfen, ob das eine überhaupt zu dem anderen passt oder gar in der Kombination schädlich ist, passiert selten im Pflegeheim (auch nicht in den eigenen vier Wänden). Vielfach fehlen dafür Zeit, Kompetenz und ein Apotheker oder geriatrisch versierter Arzt, der kritisch die Medikamentenverordnung analysiert.

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Klinikeinweisung wegen falscher Medikation

Wie dringlich das Thema ist, belegen internationale Studien: Auf 100 Heimbewohner kommen pro Monat etwa zehn „unerwünschte arzneimittelbezogene Ereignisse (UAE)“, 42 Prozent dieser Ereignisse wären potenziell vermeidbar. Deutschlandweit sollen es rund 700.000 Fälle sein. Der Klassiker: blutdrucksenkende Mittel, die immer wieder zu Schwindelanfällen und Stürzen führen. Eine Studie der Universität Bonn zeigt außerdem, dass sich bei 10.174 Behandlungsfällen in deutschen Kliniken 665 mal der Verdacht auf Unerwünschte Arzneimittelnebenwirkungen bestand (über einen Beobachtungszeitraum von einem Monat), also bei rund 6,5 Prozent aller Patienten.

Ein Pharmazeut, der Altenheime berät

Schlimm findet der Pharmazeut Frank-Christian Hanke, der selbst 13 Jahre lang in der Altenpflege gearbeitet hat, die „Bestellroutine“ in den meisten Heimen: Arzneien würden einmal verschrieben und dann einfach immer weiter verordnet statt zu hinterfragen, ob das Mittel überhaupt noch nötig ist. Vor neun Jahren hat er deshalb die Firma Gero PharmCare gegründet. Sie schreibt sich auf die Fahnen, Heimen durch Umstrukturierung zu mehr Sicherheit in der Medikamentenversorgung zu verhelfen und Pflegekräfte per Fortbildung für das Thema zu sensibilisieren und stärken.

AMTS-Ampel macht Bewohner gesünder

Hanke war auch eingebunden in ein großes altersmedizinisches Forschungsprojekt namens AMTS-Ampel, das in den Jahren 2012 bis 2015 lief und an dem insgesamt 15 Heime mit 1.000 Heimbewohnern teilnahmen, wissenschaftlich begleitet von den Unikliniken Witten/Herdecke, Bonn, Düsseldorf, Rostock und Eppendorf. Die Ergebnisse der Studie belegen, dass die UAE um 39 Prozent reduziert werden können bei konsequenter Umsetzung verschiedener Maßnahmen wie das Überprüfen der Medikation auf Wechselwirkungen. Stürze gingen um gut ein Drittel zurück, bei der Hälfte der Patienten verbesserte sich der Gesundheitszustand.

Apothekerin Karina Esser berät ehrenamtlich

Ein wichtiger Erfolgsfaktor sei die Schulung der Pflegekräfte und die Begleitung durch geriatrisch ausgebildete Apotheker, bilanzierte die Apothekerkammer Nordrhein eine weitere, eigens von ihr initiierte Studie. Die Aachener Apothekerin Karina Esser hat daran teilgenommen. Sie wünscht sich nach amerikanischem Vorbild auch hierzulande den Apotheker im Gefolge nicht nur der klinischen, sondern auch der geriatrischen Visite am Krankenbett.

Nur noch 3 statt 13 Medikamente

„Ärzte betrachten die auftretenden Symptome vielfach nicht vor dem Hintergrund möglicher arzneibedingter Erkrankungen“, sagt Esser. „Wir hatten einen Fall, da ist eine Frau mehrmals am Tag gestürzt. Sie bekam 13 verschiedene Medikamente. Nach einer detaillierten Medikamentenanalyse bekam sie nur noch drei. Und stürzte nur noch einmal im Monat. Das war für mich ein echtes Schlüsselerlebnis. Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) sollen ja auch nicht mehr als drei verschiedene Arzneimittel gleichzeitig eingenommen werden.“

Die Nachfrage der Heime ist groß

Die Medikamentenchecks seien schon recht aufwendig, man könne sie deshalb nur auf Problemfälle konzentrieren, sagt Esser. Aktuell macht die dreifache Mutter dies unentgeltlich in dem Caritas-Heim, wo auch die Studie lief. Andere Aachener Einrichtungen hätten zwar schon angefragt, ob sie dies auch bei ihnen machen könnte, aber ohne Bezahlung sei diese Zusatzleistung auf Dauer nicht machbar, sagt Esser.

Karina Esser: Pflegekräfte schulen

Sie wünscht sich nicht nur ein stärkeres Bewusstsein für das Thema seitens der Heimleitungen, sondern auch „ein System, das Apotheker nicht länger für ihren hohen Umsatz belohnt, sondern lieber für deren gute Beratung. Esser: „Ansonsten gibt es aus finanzieller Hinsicht für uns keinen Anreiz zum Arzneimittelrisikomanagement in den Heimen.“ Pflegekräfte sollten zudem in speziellen Schulungen dafür sensibilisiert werden, dass nicht nur Krankheiten, sondern auch Medikamente viele krankheitsähnliche Symptome nach sich ziehen können.

ReduPharmKreativ: Pflegekräfte und Apotheker an einem Tisch

Das Wichern-Haus der Diakonie Düsseldorf hat mit seinem Projekt ReduPharm Kreativ vor fünf Jahren den ersten Platz beim Deutschen Preis für Patientensicherheit belegt. Ziel war auch hier, UAE zu vermeiden und damit die Patientensicherheit zu erhöhen. Dafür wurde ein Team zur Sicherung der Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS-Team) gegründet. Hierzu zählten Pflegefachkräfte, Mitarbeitende des Sozialen Dienstes und ein Apotheker. In den 14-tägigen Sitzungen wurden die Medikamentenverordnungen jedes einzelnen Bewohners analysiert. Man berücksichtigte Diagnosen und die detaillierte Therapiebeobachtung.

Pflegekraft spricht Arzt an

Fielen Unstimmigkeiten oder UAE auf, wurden gemeinsam Änderungsvorschläge erarbeitet, die man dem jeweiligen verordnenden Arzt – im Wichern-Haus gibt es keinen festen Heimarzt, sondern jeder Bewohner bringt quasi seinen „alten“ Hausarzt mit - unterbreitete. Der Arzt entschied dann zusammen mit der Bezugspflegefachkraft über Möglichkeiten zur Anpassung der Medikation.

Petra Thürmann von der Uni Witten-Herdecke auch dabei

Um alle Mitarbeiter des Wichern-Hauses zu einem sicheren Umgang mit den Medikamenten zu befähigen, fanden zudem umfangreiche Schulungen statt. Wissenschaftlich begleiteten das Projekt der Apotheker Gero Joks im Rahmen seiner Doktorarbeit und dessen Doktormutter, Professorin Petra Thürmann von der Universität Witten-Herdecke.

[Welche Medikamente sind besonders ungeeignet für Ältere? Lesen Sie dazu unseren Artikel Vorsicht vor diesen 80 Medikamentenwirkstoffen!]

Jetzt gibt es im Wichern-Haus einen Amtsapotheker

Man habe die wichtigsten Maßnahmen des Projekts auch nach dessen Abschluss übernommen, allerdings dann nicht mehr mit dem Doktoranden, sondern mit einem Amtsapotheker, betont Rita Krabiel, ehemalige Leiterin des Wichern-Hauses. „Das ist ein großer Erfolg in einer wichtigen Sache und kommt bei allen Beteiligten sehr gut an, denn es erhöht die Lebensqualität der Bewohner ganz erheblich, wenn sie nicht mehr Medikamente als nötig schlucken müssen.“

„Schöne Wertschätzung für Pflegekräfte“

Die frühere Pflegedienstleiterin Stefanie Lührmann ergänzt: „Die wissenschaftliche Studie war auch eine schöne Wertschätzung für die Mitarbeiter. Diese sahen sich endlich einmal auf Augenhöhe mit dem Arzt, und es wurde klar: ohne gut geschulte Pflegekräfte läuft auch beim Thema Pillenmanagement nichts.“ Die 14-tägigen Teamsitzungen habe man aber abgeschafft, das sei nicht mehr nötig. „Wir kontaktieren den Apotheker jetzt häufig auf dem schnellen Dienstweg, also per Mail oder Telefon. Dass er ins Heim kommt, bleibt doch die Ausnahme.“

„Werbewirksames Alleinstellungsmerkmal“

Die Aachener Apothekerin Carina Esser hat ihre Heimbesuche auch nach Abschluss der Studie beibehalten. Nun hofft sie, dass auch den Angehörigen der kritische Blick in die Pillendosen ihrer Eltern oder Großeötern bald wichtiger wird. „Dann wäre das Arzneimittel-Risikomanagement für die Heime doch auch ein Alleinstellungsmerkmal, mit dem sie werben könnten. Vielleicht würde das den Druck und die Akzeptanz erhöhen, sich für ein solches System stark zu machen und die WHO-Empfehlung, höchstens drei verschiedene Medikamente gleichzeitig einzunehmen, umzusetzen.“

Autorin: Birgitta vom Lehn

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