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Notfall im Pflegeheim

Lebloser Bewohner – reanimieren oder nicht?

Im Notfall sind viele Pflegekräfte ratlos: Nur wenige Heime haben Abläufe etabliert, die ihnen Sicherheit geben – wie sich mit dieser Situation leben lässt und wie man sie ändern kann    

So schnell kann es gehen: Eine Fachkraft in einem Pflegeheim springt für eine erkrankte Kollegin von einer anderen Station beim Spätdienst ein. Mit den Bewohnern und deren Krankengeschichte ist sie kaum vertraut. Da plötzlich: Eine Bewohnerin ruft sie um Hilfe. Herr Paul im Nachbarzimmer liegt regungslos auf dem Boden. Er atmet nicht mehr. Und jetzt? Reanimieren – schnell. Aber will Herr Paul das überhaupt? Gibt es eine Patientenverfügung? Und, wenn ja: Wo ist sie?

Im Notfall nach Bauchgefühl entscheiden?  

„Die rechtlichen Pflichten im Rahmen der Notfallhilfe sowie ethische Aspekte erregen regelmäßig die Gemüter und sorgen für Verunsicherung bei medizinischem oder pflegerischem Fachpersonal“, sagt David Gräter, Notfallsanitäter und Lehrer für präklinische Notfallmedizin. Die Grundfragen bei Notfällen in der Altenpflege seien: Was muss man? Was darf man? Und was darf man keinesfalls tun? Oder ganz konkret: Muss bei einem Herz-Kreislauf-Stillstand bei Bewohnern wie im Fall des fiktiven Herrn Paul sofort mit der Wiederbelebung begonnen werden? Ist sie ethisch vertretbar, wenn der Betroffene beispielsweise multimorbide ist und über 90 Jahre alt? Muss man eine Reanimation nicht unterlassen, weil Herr Paul das in seiner Patientenverfügung so bestimmt hat? Und was ist, wenn man als Ersthelfer gar nicht weiß, ob es die gibt, was in ihr steht – und wo man sie jetzt, allein im Nachtdienst, suchen müsste?

Vorsicht vor „unterlassener Hilfeleistung“!

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Bei Notfallsituationen in der Altenpflege bewegen sich die Beschäftigten in einem diffizilen juristischen Spannungsdreieck. Als normaler Bürger im Sinne des Gesetzes sind sie – wie alle anderen auch – in Not- oder Unglücksfällen dazu verpflichtet, anderen zu helfen. Wer nicht hilft, kann dafür mit einer Geld- oder Freiheitsstrafe belangt werden (Strafgesetzbuch, Paragraf 323c: „Unterlassene Hilfeleistung“).

Nichtstun – Pflegekräfte erwarten besonders harte Strafen  

Zweiter Punkt ist die sogenannte „Garantenstellung“. Vertreter von medizinischen und pflegerischen Berufen können sich strafbar machen, wenn sie eine (drohende) Schädigung von ihnen anvertrauten Personen nicht aktiv abwenden (Strafgesetzbuch, Paragraf 13: „Begehen durch Unterlassen“). Dies kann etwa der Fall sein, wenn keine Dekubitus- oder Sturzprophylaxe durchgeführt wird und damit eine Schädigung der Gesundheit nicht aktiv verhindert wurde. Trotz Garantenstellung nicht wiederzubeleben, kann besonders hart bestraft werden. Der Strafrahmen reicht bis zu lebenslanger Haft. Liegt dagegen eine Patientenverfügung vor, die bekannt und gültig ist, und in der Maßnahmen zur Wiederbelebung ausdrücklich untersagt sind, ist Nichtstun keine strafbare Handlung mehr.

Punkt drei: Eine medizinische Maßnahme darf nur dann durchgeführt werden, wenn der Patient zuvor eingewilligt hat – egal, ob etwa Pflegekräfte, Notfallsanitäter oder Ärzte sie ausführen. Dieser Paragraf 630d („Einwilligung“) aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) findet auch Ausdruck in der wachsenden Zahl von Patientenverfügungen, die es in Deutschland gibt.

Der hat doch eine Patientenverfügung …     

Soweit die Theorie. Die Praxis kann ganz anders aussehen. „Wir müssen den aktuellen Willen des Patienten verfolgen“, sagt David Gräter, der sich in seinem Buch Akute Notfälle in der Altenpflege ausführlich mit dem Thema beschäftigt hat. „Aber die Frage ist oft: Was ist denn der aktuelle Wille?“ Wenn eine Patientenverfügung existiert: Wie alt ist sie und ist sie aktuell? Gibt es für die aktuelle Notfallsituation tatsächlich eine Entsprechung in der Vorausverfügung?

[Sie interessieren sich für das Buch von David Gräter? Lesen Sie hier die Kritik unseres Lesers Johannes Reingruber, Krankenpfleger bei den Barmherzigen Brüdern in „Betreuen Pflegen Wohnen“ in Kritzendorf, Österreich]   

… die Tatsache allein hilft im Notfall nicht immer weiter 

„Letzten Endes geht es um Zeit, um Minuten und Sekunden“, sagt Gräter, der jahrelang im ländlichen Raum um Hannover als Notfallsanitäter auch in Pflegeeinrichtungen gerufen wurde. „Wenn wir uns unsicher sind, wie der Wille ist, dann dürfen jetzt nicht zwei Personen loslaufen und sagen: Jetzt wühlen wir mal in der Patientenverfügung. Was ist, wenn sie am Ende feststellen: Ach Mensch, der will das doch!“ Dann ist es wahrscheinlich schon zu spät. Je länger eine Person mit Kreislaufstillstand daliegt, ohne dass etwas gemacht wird, desto mehr Zellen – auch Hirn- und Nervenzellen – sterben irreversibel ab. “

Was im Zweifel bei einem Notfall zu tun ist

Gräter kennt den Zwiespalt aus eigener Erfahrung: „Ich bin nicht dafür, dass Menschen reanimiert werden, die das nicht wollen. Ich möchte nur für eines sensibilisieren: Wenn es zu einer Notfallsituation kommt und der Patientenwille nicht klar ist, weil es keine Strukturen gibt, die das regeln, dann sollte man immer mit der Reanimation anfangen. Gehen Sie im Zweifelsfall erst mal davon aus, dass ein Mensch überleben möchte.“ Liegt keine Patientenverfügung vor und kommt es zum Notfall, muss nach dem „mutmaßlichen Willen“ des Betroffenen entschieden und gehandelt werden.

Hilfreich: der gelbe Ausweis, eine „Patientenverfügung light“

Gräter weiß um die weit verbreitete Rechtsunsicherheit und beobachtet in Deutschland „die verschiedensten Insellösungen, die mehr oder minder gut durchdacht sind“. Ein Ansatz, der Praktikabilität verspricht, ist ein Notfallausweis, den die Stadt Düsseldorf gemeinsam mit Notärzten und der örtlichen Palliativmedizin entwickelt hat: Der gelbe Ausweis gilt als „Patientenverfügung light“, die in handlicher Form – sichtbar auf dem Nachttisch oder griffbereit im Portemonnaie – auch im Notfall schnell auffindbar ist. „Er dient als Kurzzusammenfassung des Patientenwillens und gibt den Rettungskräften Rechtssicherheit", sagt Martin Neukirchen, Leitender Arzt am Zentrum für Palliativmedizin der Uniklinik Düsseldorf.

Eine Versorgungsplanung kann im Notfall mehr Sicherheit geben 

Ein aufwendigeres Verfahren ist die „gesundheitliche Versorgungsplanung für die letzte Lebensphase“. Kernelement dieses Konzepts, das seit 2018 von den Krankenkassen finanziert wird, ist ein umfangreicher Gesprächsprozess zwischen einem geschulten Interviewer, dem einwilligungsfähigen Bewohner und seinem möglichen (künftigen) Vertreter. Auch die behandelnden Ärzte werden einbezogen. In der Gesprächsserie werden persönliche Einstellungen ergründet, medizinische Szenarien wie der akute Notfall durchgespielt und lebensverlängernde Maßnahmen bejaht oder verneint, was deutlich differenzierter und aussagekräftiger als die konventionelle Patientenverfügung ist.

Ein Aspekt der Vorsorgeplanung ist auch, Prozesse für Notfälle und Sterbesituationen in Pflegeeinrichtungen zu etablieren: Es geht darum, dafür zu sorgen, dass dokumentierte Behandlungswünsche verlässlich umgesetzt werden. Und den Mitarbeitern mehr Handlungssicherheit schenken. An beidem krankt es nämlich oft.

David Gräter: „Wir brauchen klare Strukturen in Pflegeheimen“ 

„Das Thema ist extrem komplex“, sagt Notfallexperte Gräter. „Keiner Pflegekraft kann man zumuten, diese Frage in einer Ausnahmesituation wie dem akuten Notfall als Einzelperson zu beantworten.“ Der Dozent an der Notfallsanitäter-Schule Braunschweig fordert: „Wir brauchen Klarheit: Klare Strukturen in den Einrichtungen und klare Standards, wie in einem Notfall zu verfahren ist.“

Projekt Novelle: Notfallalgorithmen sollen Sicherheit geben 

Notfälle sind Ausnahmesituationen für Patienten und Personal. Mangelnde Absprachen und fehlende Unterlagen können zur Folge haben, dass Maßnahmen durchgeführt werden, die dem Patientenwunsch widersprechen. Hier setzt das derzeit in Niedersachsen laufende Projekt „Novelle“ an, das von der Stadt Braunschweig, der AOK, der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) und weiteren Uniklinika und Instituten bundesweit getragen wird.

Vielleicht werden die Algorithmen teil der Regelversorgung

Ziel dieses Projekts ist die Entwicklung von Notfallalgorithmen für die stationäre Langzeitpflege. Sie sollen Pflegefachkräften Handlungs- und Rechtssicherheit geben und zugleich Patentensicherheit, Selbstbestimmung und ethische Gesichtspunkte berücksichtigen. Die im Projekt entwickelten Algorithmen sollen in Pflegeheimen eingeführt und erprobt werden. Im Erfolgsfall könnte die neue Versorgungsform in die Regelversorgung der gesetzlichen Krankenkassen aufgenommen werden und damit künftig Patienten und Mitarbeitern in Pflegeheimen zugutekommen.

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Autor: Adalbert Zehnder

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