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Foto: Pflegeexperten Center der Marienhaus Holding

Interview

Landärzte, wo seid ihr? Hier kommt Pflegeexpertin Breuer    

In einem Modellprojekt in der Eifel übernehmen Pflegekräfte die ärztlichen Hausbesuche. Eine von ihnen erzählt, warum sie als Intensivschwester viel dazu lernt      

Pferde, Wälder und der Nürburgring. Die Krankenpflegerin Adrienne Breuer, 25, zog vor einem Jahr wegen ihrer Hobbys in die Eifel. Im Landkreis Ahrweiler zwischen Bonn und Koblenz hat sie auch einen einzigartigen Job gefunden: Als Pflegeexpertin macht sie Hausbesuche bei alten und chronisch kranken Patienten und entlastet so die Hausärzte, von denen es – wie überall auf dem Land – viel zu wenige gibt.    Das Ganze ist ein Modellprojekt der Marienhaus Unternehmensgruppe und nennt sich „HandinHand“. Es läuft seit Oktober 2019, ist auf drei Jahre befristet und wird mit rund acht Millionen Euro vom Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses gefördert. Mit dabei sind neben Adrienne Breuer elf weitere Pflegekräfte, die alle berufsbegleitend „Klinische Pflegeexpertise“ in Vallendar studieren.

pflegen-online: Sie fahren zu den Patienten nach Hause. Was ist der Unterschied zu einem ambulanten Pflegedienst? 

Adrienne Breuer: Ich muss nicht so früh aufstehen. (lacht) Im Ernst: Ich sehe jeden Patienten in der Regel nur einmal im Monat, bei Bedarf auch öfter. Ich übernehme keine Körperpflege, sondern mache in etwa das, was ein Arzt beim Hausbesuch macht: Ich untersuche den Patienten, kontrolliere Wunden und die Medikamenteneinnahme, schreibe ein EKG oder nehme Blut ab. Die Patienten im Modellprojekt sind älter als 60 Jahre und chronisch krank. Ein Besuch in der Hausarztpraxis ist ihnen nicht mehr oder nur schwer möglich. Die Ärzte aber haben wenig Zeit für Hausbesuche, deswegen fahre ich hin. Zu meinem Alltag gehören auch Beratungsgespräche zu chronischen Erkrankungen, Ernährung oder einem möglichen Sturzrisiko.

Kein Schichtdienst?

Jobportal pflegen-online.de empfiehlt:

Nein, ich arbeite von Montag bis Freitag, von 8.30 Uhr bis 17 Uhr. Insgesamt betreue ich etwa 40 Patienten. An manchen Tagen mache ich zwei Besuche, an anderen sechs. Diese dauern in der Regel eine Stunde, manchmal auch länger.

Welche Tätigkeiten dürfen Sie ausführen?

Ich übernehme durch die Ärzte delegierte Aufgaben, aber ich stelle keine Diagnosen, verordne keine Medikamente und Therapien, und stelle keine Rezepte aus. Wenn das notwendig ist, rufe ich den Arzt an oder fahre in der Praxis vorbei, machen Therapievorschläge, zeige gegebenenfalls Bilder von Wunden, hole dafür Verordnungen ab.

Sehen die Ärzte diese Patienten denn gar nicht mehr?

Die Praxen in unserem Projekt handhaben das unterschiedlich. Einige Ärzte führen, seit wir da sind, nur notfallmäßige Hausbesuche durch. Andere fahren weiterhin einmal im Monat zu den Patienten. Diese werden somit alle zwei Wochen besucht.

Mit was für Patienten haben Sie so zu tun?

Ein Beispiel: Eine Witwe, Mitte achtzig, wohnt alleine in einem abgelegenen Eifel-Dörfchen. Als sie mir bei meinem ersten Besuch die Tür aufmachte, blickte ich in ein blitzeblaues Gesicht voller Hämatome. So etwas sehe ich hier übrigens öfter. Sie redete gleich los, wie ein Wasserfall: Sie sei so einsam, habe wenig Appetit, wie gut, dass ich jetzt zum Reden käme. Sie zeigte mir, wie sie wohnt: Ein altes verwinkeltes Haus mit rutschigem Teppich im Eingangsbereich, ein langes Aufladekabel zog sich quer durchs Zimmer… Das Hauptproblem aber: Sie heizt noch mit Kohlen und muss immer raus über eine abgewetzte Holztreppe in den Schuppen, Kohlen holen. Dabei rutschte sie regelmäßig aus und fiel hin. 

Wie konnten Sie da helfen?

Natürlich ging es erstmal darum, die Stolperfallen zu beseitigen. Daneben hatte sie starke Schulterschmerzen wegen einer geschädigten Rotatorenmanschette. Die Schmerztabletten aber nahm sie nur sporadisch, zudem schonte sie sich nicht, schleppte sich eben mit den Kohlen ab, putzte, kochte  selbst – allerdings nicht regelmäßig. Ich arbeite darauf hin, dass sie die Medikamente vorschriftsmäßig nimmt und sich mehr Hilfe holt, vielleicht Essen auf Rädern. Anfangs lehnte sie das alles eher ab. Jetzt kommt immerhin einmal die Woche ein Pflegedienst und hilft ihr beim Duschen. Alle zwei Wochen nimmt sie jemand zum Einkaufen mit. In den kleinen Dörfern gibt es keinen Einkaufsladen, aber es kommen sogenannte Frischewagen vorbei: das Kartoffelauto, der Eiermann, der Bäcker.

Sie haben zuvor auf einer Intensivstation in Bad Honnef gearbeitet. Mal ganz ehrlich: Vermissen Sie das nicht? 

Doch. Anfangs war es eine Umgewöhnung, auf einmal so eigenständig zu arbeiten. Ich kann mich nicht direkt mit Kollegen beraten oder um Rat bitten, sondern muss oft alleine entscheiden und das auch selbstbewusst vertreten. Ich musste auch meinen Blick erweitern: Wenn zum Beispiel Patienten mit Beinödemen Diuretika bekommen, dann muss ich mit darauf achten, dass nach einiger Zeit die Elektrolyte kontrolliert werden, und ebenso, dass die Medikamente auch wieder abgesetzt werden. Fachlich bin ich sehr froh um meine Intensiverfahrung, weil ich mit Notfällen umgehen kann und mir einiges leichter fällt.

Keine Angst, dass Sie etwas verlernen, fernab der Hightechmedizin?

Durch diese habe ich ja auch manches verlernt. Blutabnehmen zum Beispiel. Natürlich habe ich auf der Intensivstation hundertfach Blut entnommen, über die großen Zugänge. Aber ganz normal mit der Nadel in die Armvene stechen - das musste ich hier erstmal wieder üben. Auch die Krankenbeobachtung hat hier einen höreren Stellenwert. Auf der Intensivstation sagen mir die Apparate und Monitore sehr viel, hier habe ich deutlich weniger Parameter. Ich finde das sehr spannend.

Sie sind als Pflegeexpertin in ein geschlossenes System hineingekommen: Patient, Hausarzt, Pflegedienst. Wurden Sie freundlich aufgenommen?

Ein gewisses Spannungsfeld gab es am Anfang schon – wir waren ja noch relativ unbekannt. Ein Patient sagte mal auf breiten Eifeler Platt: „Ich finde et ja ganz arg nett, dat Sie hier zu mir rausgekommen sind, aber wat wollen Sie von mir?“

Sagt den Leuten denn der Begriff „Pflegeexpertin“ etwas?

Eher nicht. Die meisten haben aber in der Zeitung mal vom Projekt gelesen und können was damit anfangen, wenn ich sage, ich komme von „Hand in Hand“. Es ist auch eine Frage, wie die Hausärzte mich ankündigen, manche als ihre Assistentin , manche als  Krankenschwester. Damit sind auch Erwartungen verbunden. Manchmal muss ich schon richtig stellen, dass ich nicht für die Körperpflege da bin.

Kann man sich immer abgrenzen? Was machen Sie, wenn Sie zu einem Patienten kommen, der in einem nassen Bett liege, weil er es nicht  rechtzeitig zur Toilette geschafft hat? 

Da mir dieser Fall so noch nicht passiert ist, kann ich die Frage nur hypothetisch beantworten. Erstmal würde ich versuchen, Angehörige zu erreichen. Wenn diese nicht können, würde ich natürlich helfen. Aber ich würde mich im Anschluss darum kümmern, dass der Patient mehr Hilfe bekommt. Einmal kam ich zu einem Patienten, dessen Wundverband sich gelöst hatte. Ich wusste, dass der Pflegedienst erst am Nachmittag kommt. Er hatte aber jetzt Schmerzen. Ich habe die Wunde dann verbunden und den Pflegedienst angerufen, dass sie an diesem Tag nicht mehr kommen müssen.

Die waren froh, oder?

Nicht direkt. Es war ja ihr Auftrag. Dieser Fall war aber insgesamt etwas komplizierter. Ich hatte einen Vorschlag zur Wundversorgung gemacht und diesen mit dem Arzt geklärt. Der ambulante Dienst führte den Verbandwechsel aber anders durch, was mich wunderte. Zugrunde lag ein Missverständnis zwischen mir, dem Pflegedienst und der Arztpraxis. Glücklicherweise ließ sich das klären. 

Ein typisches Problem?

Das waren Abstimmungsprobleme in der Anfangszeit. Jetzt passen wir mehr auf, dass alles genau schriftlich übermittelt wird. Es sind ja eh schon viele Leute beteiligt, in den Arztpraxen hat man immer wieder andere Angestellte am Telefon und bei den Pflegediensten wechseln sich die Fachkräfte ja auch ab. 

Wenn das Projekt nach drei Jahren ausläuft, was dann?

Manche Patienten sagen jetzt schon: „Was soll ich bloß machen, wenn Sie nicht mehr kommen?“ Ich hoffe sehr, dass es dann in die Regelversorgung mit aufgenommen wird und einen dauerhafte Finanzierungsmöglichkeit gefunden wird. Ich würde auf jeden Fall dabei bleiben wollen.

Interview: Hanna Lucassen

 

 

 

 

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