Ein Gespräch mit den Spezialisten für Frauenherzen Prof. Dr. Michael Becker vom Zentrum für Frauen-Herzen am Rhein-Maas-Klinikum Würselen über Gendermedizin und die besondere Belastung von Frauen im Pflegeberuf.
pflegen-online: Es gibt zwischen Frauen und Männern größere Unterschiede in der Physiologie und Pathophysiologie. Gibt es zum Beispiel durch die weiblichen Hormone Östrogen und Progesteron im weiblichen Zyklus sichtbare Veränderungen im EKG oder in den Parametern im Blutbild?
Dr. Michael Becker: Veränderungen durch Östrogen und Progesteron im weiblichen Zyklus sehen wir häufig. Die Unterschiede sind zwar nicht so groß, als dass wir sie in einem normalen Herzultraschall, an den Parametern im Blutbild oder im EKG auf den ersten Blick tatsächlich sehen würden. Wenn wir in Studien jedoch in die kleinsten Details reingehen, sehen wir die zyklischen Veränderungen. Physiologisch, so der Stand der Wissenschaft, haben sie aber scheinbar in der Medizin keinen größeren Effekt und sind insgesamt so marginal, dass sie für die einzelne Frau keine tatsächliche Relevanz haben.
Für die Aufnahme und Verstoffwechselung von Medikamenten aber schon.
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Der unterschiedliche Hormonstatus hat für die Aufnahme, Wirksamkeit, Konzentration im Blutserum und die Verstoffwechselung von Medikamenten in der Tat unterschiedliche Auswirkungen. Der Hormonstatus ist mitentscheidend, wie ein Medikament im Körper wirkt, wie es aufgenommen und wieder ausgeschieden wird.
Da ist die Forschung noch nicht im Klaren.
Mit von Bedeutung bei der Medikamentenaufnahme ist immer auch die Psyche. Frauen sind vor, während und nach dem Zyklus psychisch unterschiedlich unterwegs, Stichwort Compliance. Denkt man tatsächlich jeden Tag daran, ein Medikament einzunehmen, oder wird es auch ausgelassen. Da gibt es sehr spannende Auswirkungen.
Viele dieser Dinge sind für die Frau im Vergleich zum Mann erst einmal im Alltag für ihr Leben oder für ihr Erleben weniger oder gar nicht relevant. Für den Umgang mit sich selbst und den mit ihren Patientinnen, die sie betreuen, ist es jedoch hilfreich, mehr darauf aufzupassen, bewusst damit umzugehen, dass Frauen eben auf Vieles physiologisch und pathophysiologisch, hormonell und auch emotional anders reagieren als Männer. Und auf lange Sicht gesehen, wenn das schützende Östrogen nach der Menopause wegfällt, gibt es bei Frauen dann mehr kardiale Erkrankungen, die für die einzelne Patientin sehr relevant sind.
Da wäre zum Beispiel das Thema arterielle Hypertonie. Frauen, die in der Pflege arbeiten, klagen häufiger über einen erhöhten Blutdruck.
Ein erhöhter Blutdruck kann verschiedene Ursachen haben. Ich denke, zum einen liegt es am Pflegeberuf selbst, der extrem anstrengend und stressig ist. Es gibt nur wenig Zeit und Ruhe, um zum Beispiel eine vernünftige Mittagspause zu machen, in der man sich einen Salat macht, in der man genügend trinkt. Es geht vielmehr darum, möglichst schnell Kalorien aufzunehmen, schnell mal einen Schokoriegel „rein zu pfeifen“ – sage ich jetzt mal salopp –, damit man schneller wieder arbeiten kann und leistungsfähig ist. Ich glaube eher, dass ein hoher Blutdruck mit ungesundem Lebenswandel und den ungesunden Arbeitsbedingungen einhergeht.
In der Pflege arbeiten viele Frauen in den Wechseljahren. Hat ein erhöhter Blutdruck nicht auch mit dem Östrogenmangel während und nach der Menopause zu tun?
Das ist tatsächlich ein weiterer wichtiger Punkt; die Änderung der Hormone in den Wechseljahren beeindruckt natürlich den Blutdruck. Wenn das schützende Östrogen mit den Wechseljahren wegfällt, kann es auch zu deutlich mehr Problemen mit dem Blutdruck kommen. Und je älter ein Mensch wird, umso schlechter wird die Elastizität der Gefäße, die Herzkraft kann abnehmen und der Blutdruck steigen.
Was raten Sie Pflegekräften?
Das Entscheidende ist, dass die Mitarbeitenden in der Pflege ihre Pausen bekommen, sie selbst auch auf die Pausenzeiten achten und natürlich, dass eine Pflegekraft weniger Patienten versorgt, sie auch die Zeit dafür bekommt, einmal selber zum Arzt zu gehen, um sich um die eigene Gesundheit zu kümmern. Stellt sich heraus, dass sie unter hohem Blutdruck leidet, muss er behandelt und gut eingestellt werden.
Frauen reagieren auch sensibler auf Höhenveränderungen und Änderungen der Körperposition. Das zeigt sich zum Beispiel in der Unfallforschung. Medizinisch neigen Frauen stärker zu orthostatischer Hypotension – einem Blutdruckabfall durch Änderungen in der Körperhaltung (siehe ausführliche Erklärung ganz unten*) – oder zu Synkopen (kurzzeitiger Bewusstlosigkeit, Anm. d. Red.). Wie wirkt sich das speziell auch bei den Pflegekräften persönlich im Berufsalltag, zum Beispiel beim Anziehen von Kompressionsstrümpfen in der Altenhilfe oder beim Anlegen von Verbänden aus?
Da geht es eher um schlanke Menschen, um große Menschen, bei denen das Herz mehr arbeiten muss, um das viele Blut durch den Körper zu pumpen. Ein Vergleich, und der hinkt natürlich, wenn man sich einmal das Herz einer Giraffe vorstellt: Es muss ganz anders arbeiten, als das von einem Wildschwein, zum Beispiel. Wenn wir junge große Frauen haben, die sich häufig bücken müssen, schnelle Körperhaltungsänderungen vornehmen müssen – vom Sitzen oder Bücken in den Stand, zum Beispiel –, kann es eben sein, dass der Körper damit Schwierigkeiten hat. Darauf sollte man reagieren, indem man viel trinkt, etwas mehr Salz zu sich nimmt, eventuell Stützstrümpfe trägt oder auch Stehtrainings macht, das heißt einfach nur stehen, um dem Körper das sozusagen „beizubringen“.
Es kommt auch bei kleineren Menschen vor. Worauf müssen Pflegekräfte achten, wenn Sie Patientinnen begleiten, die mit orthostatischer Hypotension und Synkopen reagieren, wenn sie beispielsweise mehr liegen oder auch bestimmte blutdrucksenkende Medikamente einnehmen?
Synkopen sind tatsächlich nicht nur ein Problem bei Frauen. Wichtig ist vor allem, ein Gespür dafür zu entwickeln, dass man es jetzt nicht mit einer Frau zu tun hat, die sich nur „anstellt“, die sich in so eine, ich sage mal, „gespielte Ohnmacht“ fallen lässt, sondern dass es diese orthostatischen Dysregulationen bei Frauen wirklich häufiger gibt und man ein Auge darauf halten muss. Und wenn Synkopen bei einer Frau häufiger auftreten, gehört das immer kardiologisch abgeklärt: steckt dahinter doch eine Klappenerkrankung, eine behandlungsbedürftige Bradykardie oder eine Kreislauffehlregulation? Dann kann man mit entsprechenden Verhaltensregeln dagegen anarbeiten.
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Worauf sollten Pflegekräfte bei der Begleitung kardiologischer Patientinnen noch achten? Ein Beispiel: Das Schlagvolumen ist bei Frauen um zehn Prozent geringer, die Ejektionsfraktion dafür höher und die Puls-Rate 3-5 bpm schneller (Ejektionsfraktion: das Blutvolumen, das eine Herzkammer bei einer Herzaktion auswirft; bpm: engl. „beats per minute“ also „Schläge pro Minute“, die Herzfrequenz. Der Normwert liegt bei Erwachsenen im Bereich zwischen 60 und 100 bpm, Anm. d. Red.).
Das ist extrem schwierig. Wenn die Puls-Rate der Patientin hier jetzt fünf Schläge pro Minute schneller ist, dann macht das für sie im Lebensalltag nichts, es hat keine Relevanz für sie. Was ich jedoch relevant finde, ist genau das, was Sie machen, nämlich aufzuklären, das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass Frauen und Männer anders sind, dass ich da eine Frau vor mir habe und anders auf sie achten muss als auf einen Mann. Das ist doch das Entscheidende.
Frauen haben einen anderen Hämoglobin-Normwert als Männer. Ihre Sauerstoff-Transport-Kapazität ist dadurch geringer als bei einem Mann, was bei Frauen wiederum durch einen geringeren Sauerstoffverbrauch ausgeglichen wird. Hinzukommt, dass Frauen in der Pflege häufig durch Kindererziehung, die Pflege von Angehörigen und Haushalt mehrfach belastet sind, weshalb viele in Teilzeit arbeiten. Dennoch müssen sie partner(innen)unabhängig ihre Rente erwirtschaften. Kann sich dieser Stress zum Beispiel kardial stärker auswirken, wenn Frauen bei anstrengender Arbeit weniger atmen?
Eine wirklich gute Frage, wie es denn aussieht, wenn Beschäftigte unter körperlicher und psychischer Anstrengung weniger tief ein- und ausatmen. Nein, dazu gibt es noch keine Erkenntnisse, weil es wieder im individuellen Lebensalltag nicht relevant genug ist.
Aber, wie immer ist Stress nicht gut, und ich wiederhole mich da: Deshalb ist es umso wichtiger, dass Sie über Unterschiede aufklären. Wichtig ist, dass den Menschen, den Frauen, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Pflege und anderen medizinischen Berufen bewusst ist: Da ist eine Person, eine Frau, die eben anders reagiert, als ein Mann es tut. Und Pflegekräfte sollten sich gegenseitig im Blick haben und noch besser aufeinander aufpassen. Das ist, so glaube ich, das Allerwichtigste.
Interview: Melanie Klimmer
*Begriffsklärung: Orthostatische Hypotension
Wenn der Blutdruck in aufrechter Haltung im Verhältnis zum Ruhe-Wert systolisch um > 20 mmHg und/oder >10 mmHg diastolisch abfällt. Begleitet wird der Blutdruckabfall bei plötzlicher Veränderung in der Körperhaltung mit Blässe, Schwindel, präsynkopalen Bewusstseinsstörungen, Synkopen mit Schwarzwerden vor Augen, Benommenheit, Schwäche bis hin zu Verwirrtheitszuständen oder Schmerzen im oberen Rücken und Nacken (sogenannter „Kleiderbügelschmerz“). Stürze sind besonders bei älteren Personen und Menschen nach Interventionen wahrscheinlich.
Über Prof. Dr. med. Michael Becker
Der Kardiologe ist Gründer des Zentrums für Frauen-Herzen und Chefarzt der Klinik für Kardiologie, Nephrologie und internistische Intensivmedizin am Rhein-Maas-Klinikum der Städteregion Aachen (Würselen). Inzwischen hat der 50-Jährige mit seinem personalisierten Ansatz mehr als 1.000 Frauen mit wiederkehrenden und, bis dahin unerkannten, akuten Herzbeschwerden erfolgreich behandelt.
Kontakt: michael.becker@rheinmaasklinikum.de, Tel.: 02405/62-3333