Foto: Jens Schünemann

Pflegedienst

Ist mancher Pflegedienst schon insolvent?

Die seit dem 1. September geltende Tarifpflicht in der Altenpflege bringt viele Anbieter ambulanter Pflegedienste ans finanzielle Limit. Die Experten von ETL Advision rechnen mit Schließungen

Auf kleine und mittelgroße ambulante Pflegedienste in Deutschland könnte eine dramatische Pleitewelle zukommen. „Es stehen Schließungen an“, ist Christoph Soldanski überzeugt. „Viele Dienste unterschätzen die Lage oder verschließen davor bewusst die Augen“, warnte der Bereichsleiter Heilmittel der Steuerberatungsgruppe ETL Advision während des Deutschen Pflegetages am Stand von pflegen-online. ETL ist in Deutschland Marktführer im Bereich Steuerberatung, bei seinen überwiegend 210.000 Mandanten handelt es sich überwiegend um kleine und mittlere Unternehmen, viele davon kommen aus dem Gesundheitsbereich, insbesondere der ambulanten Pflege.

Das Problem der Pflegedienste ist die seit dem 1. September geltende Tarifpflicht in der Altenpflege. Auch nicht tarifgebundene Betriebe müssen ihre Beschäftigten seitdem mindestens an bestehenden Tarifen in der Altenpflege (etwa von Caritas und Diakonie) orientieren. „Knapp 50 Prozent der betroffenen Anbieter haben sich entschieden, sich dabei dem regional üblichen Entgeltniveau anzupassen“, sagt Soldanski. Dadurch steigen ihre Personalkosten zwischen zehn und 30 Prozent, so der ETL-Experte.

Viele Dienste wissen vielleicht noch nicht, dass sie insolvent sind

Bei einem Lohnkosten-Anteil von in der Regel 75 Prozent kann das viele Dienste – oft sind es Familienunternehmen – schnell in finanzielle Schieflage bringen. Zumal die von der Politik versprochene Refinanzierung der höheren Löhne bislang alles andere als gesichert scheint. Teilweise müssen die künftigen Sätze mit den Kostenträgern erst noch verhandelt werden. Da sie für die Lohnzahlungen trotzdem weiter in Vorkasse gehen müssen, könnte vielen Diensten bald die Liquidität ausgehen. 

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Ohne schnelle Refinanzierung drohe die Insolvenz, betont Soldanski und mahnt: „Möglicherweise sind Betriebe bereits insolvent, wissen es aber noch gar nicht.“ Das Tückische sei, dass eine Insolvenz auch verschleppt werden könne. „Deshalb ist jetzt unbedingt Handeln angesagt.“

Pflegediensten fehlt die Zeit, sich mit ihren Zahlen zu beschäftigen

Sich rechtzeitig mit den aktuellen und zukünftigen Zahlen zu beschäftigen, komme im Tagesgeschäft allerdings oft zu kurz, weiß Jonas Katthage, Branchenleiter Pflege bei ETL: „In vielen Diensten fehlt einfach die Zeit dafür. Sie sind überlastet und stellen die Versorgung ihrer Patienten in den Mittelpunkt.“ Die angespannte Personalsituation in den Sommermonaten habe das Dilemma noch verschärft. In der momentanen Lage kommen die Anbieter jedoch nicht mehr darum herum: Sie müssen in die Materie einsteigen, betont Katthage – „bevor kein Handlungsspielraum mehr besteht“.

Was tun, wenn Löhne nicht vollständig refinanziert werden?  

Ein Lösungsansatz sei, die pauschalen Vergütungssätze nicht zu akzeptieren und mit den Kassen in Verhandlungen zu treten, sagt Katthage. Darüber hinaus könnten Anbieter gegensteuern, indem sie

  • sich kurzfristig Kapital über die Vorfinanzierung beschaffen
  • und parallel ihre Prozesse optimieren, um Geld zu sparen

Optimierungspotenzial bei den Prozessen bestehe möglicherweise

  • bei der Routenplanung
  • beim Einsatz von Fachkräften – manche Aufgaben können möglicherweise auch Hilfskräfte übernehmen
  • bei der Büro-Organisation
  • bei der Abrechnung von Leistungen – eventuell wird viel Zeit für Tätigkeiten aufgewandt, die bislang gar nicht abgerechnet werden.

Autor: Jens Kohrs

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