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Tarifverträge

Immer häufiger Entlastungsfrei für Pflegekräfte über 50

In Niedersachsen machen die Diakonie und das Klinikum Region Hannover vor, wie sich Entlastungstage für ältere Mitarbeiter sogar in den Tarifvertrag integrieren lassen

Fast die Hälfte (46 Prozent) aller ausgebildeten Pflegekräfte, die in Allgemeinkrankenhäusern mit mindestens 100 Betten arbeiten, sind 45 Jahre oder älter, hat das Deutsche Krankenhausinstitut (DKI) ermittelt. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch die Landespflegekammer Rheinland-Pfalz: Hier sind 54 Prozent der registrierten examinierten Pflegekräfte zwischen 41 und 61 Jahre alt. Ein Trend, der sich laut Experten verstärkt, da immer weniger junge Kollegen nachfolgen.

Man kann nicht alle ins Archiv schicken …

Erschöpften älteren Mitarbeiterinnen eine Tätigkeit im Archiv oder als Kodierfachkraft anzubieten – wie früher oft üblich –, kann also keine Lösung sein. Jetzt geht es darum, die über 50-Jährigen auf Station oder im Wohnbereich zu halten. Und tatsächlich machen sich auch immer mehr Arbeitgeber Gedanken, wie sich dies am besten bewerkstelligen lässt.

Eine naheliegende Möglichkeit, ist den Hebel im Tarifvertrag anzusetzen. Tarifverträge unterscheiden sich teilweise stark voneinander. Das spüren Pflegekräfte beispielsweise an der Anzahl der Urlaubstage oder der Entlohnung. Doch in einem scheinen sich die Verhandlungsführer von Tarifverträgen einig zu sein: Ältere Pflegekräfte müssen merklich entlastet werden.

Diakonie Hannover: Ab 58 Jahren gibt’s 7 Entlastungstage  

Allerdings sind attraktive Leistungen für ältere Beschäftigte weder in den Tarifverträgen AVR (kirchliche Träger) noch beim TdL (Uniklinken) oder dem TvöD (kommunale Träger) vorgesehen. Ausnahmen gibt es dennoch. Die Rede ist von dem Tarifvertrag Diakonie Niedersachsen (TV DN) und dem Pilotprojekt des Klinikums Region Hannover.

Der Tarifvertrag Diakonie Niedersachsen, kurz TV DN, regelt in Paragraf 12 Absatz 3 ganz konkret den Erhalt von Entlastungstagen für ältere Pflegekräfte:

  • Pflegekräfte erhalten ab dem 58. Lebensjahr sieben Entlastungstage pro Kalenderjahr.
  • Pflegekräfte, die in den vergangenen fünf Jahren im Schichtbetrieb oder nachts gearbeitet haben, dürfen bereits ab 56 Jahren die Entlastungstage in Anspruch nehmen.
  • Die Beschäftigten sollen die Entlastungstage in der Regel gleichmäßig auf das Jahr verteilen, immer zwei Entlastungstage am Stück.

KRH: Entlastungstage bereits ab 45 Jahren

Ein relativ junges Modell hat die Gewerkschaft Verdi gemeinsam mit dem Klinikum Region Hannover (KRH) ins Leben gerufen. Das Pilotprojekt hat ein umfangreiches Konzept, das nicht nur 200 zusätzliche Vollzeitkräfte vorsieht, sondern auch Erleichterungen für ältere Pflegekräfte:

  • Seit 2020 erhalten Pflegekräfte, die älter als 50 Jahre sind, drei Entlastungstage pro Kalenderjahr.
  • Seit diesem Jahr (2021) gibt es auch für Pflegekräfte über 45 Jahren drei Entlastungstage je Kalenderjahr.

Der TV DN und das Klinikum Region Hannover sind nicht die einzigen, die sich für bessere Arbeitsbedingungen bei älteren Pflegekräften einsetzen. Neben den Tarifverträgen gibt es in vielen Krankenhäusern oder Pflegeeinrichtungen Insellösungen. Doch woran liegt es, dass sich Entlastungstage und weitere Vorzüge wie zusätzliche Urlaubstage oder der Wegfall von Nachtschichten nicht wie ein roter Faden durch die Arbeits- oder Tarifverträge ziehen? Das ist tatsächlich nicht immer eine Frage des „Wollens“, sondern vielmehr des „Könnens“: Knackpunkt ist das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, auch Antidiskriminierungsgesetz genannt.

Knackpunkt: das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz

Das allgemeine Gleichbehandlungsgesetz sieht vor, dass in Deutschland niemand benachteiligt wird aufgrund von Geschlecht, Religion, ethnischer Herkunft, Behinderung, sexuelle Identität und Alter. Ein fingiertes Beispiel, das deutlich macht, dass es tatsächlich nicht so einfach ist, einer bestimmten Mitarbeitergruppe aufgrund ihres Alters bestimmte Entlastungen zuzugestehen: Claudia ist 57 Jahre alt und arbeitet seit sieben Jahren im Schichtbetrieb. Sie bekommt seit diesem Jahr jährlich drei Entlastungstage. Eine junge Kollegin mit drei kleinen Kindern fühlt sich deshalb ungerecht behandelt. Zwar verursacht ihr die anstrengende Arbeit in der Pflege keine körperlichen Beschwerden, doch die Doppelbelastung macht ihr psychisch zu schaffen. Entlastungstage erhält sie trotzdem nicht, weil sie schlichtweg noch nicht alt genug ist.

Wie das KRH den Vorwurf der Altersdiskriminierung entkräftet

Doch der Vorwurf der Altersdiskriminierung lässt sich entkräften. Ein KRH-Sprecher sagt auf Anfrage, das  eigentliche Differenzierungskriterium sei nicht das Alter, sondern die Arbeitsfähigkeit. Zwar gebe es keinen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Arbeitsfähigkeit und kalendarischem Alter (Alter im Personalausweis), weil Lebenswege anstrengender und weniger anstrengend sein können. „Doch wenn wir auch sehr individuell altern, gibt es doch gewisse Gemeinsamkeiten: Die körperlichen Kräfte lassen mit steigendem Alter nach. Dies sehen wir im Pflegeberuf. So fällt zum Beispiel die Lagerung der Patienten älteren Pflegekräften zunehmend schwerer“, sagt Nikolas Gerdau. „Die Entlastungstage sollen einen Ausgleich für körperlich anstrengende Phasen im Beruf ermöglichen. Deshalb ist es gerechtfertigt, ältere Alterskohorten im Hinblick auf die physische Arbeitsfähigkeit anders zu behandeln als jüngere Gruppen. Den jüngeren Gruppen würde man gegebenenfalls eher Unterstützung beim Umgang mit ihrem eher alterstypischen Problem, den psychischen Belastungen anbieten.“

AGG: Manchmal ist es zulässig, nach Alter zu unterscheiden

Auf etwas andere Weise ist das Deutsche Herzzentrum Berlin (DHZB) dem Vorwurf der Altersdiskriminierung zuvorgekommen: Das DHZB hat die Entlastungstage (beziehungsweise zusätzlichen Urlaubstage) an die Dauer der Betriebszugehörigkeit gebunden. Ein anderer aussichtsreicher Weg führt über den Gesundheitsschutz, der für Arbeitgeber immer mehr zur Verpflichtung wird. Unter dem Stichwort Gesundheitsschutz können Entlastungstage, zusätzliche Urlaubstage oder der Wegfall vom Nachtdienst eben doch fest verankert werden.

Nicht zuletzt lohnt sich ein gründlicher Blick ins Antidiskriminierungsgesetz:  Dort heißt es in Paragraf 10:  Eine unterschiedliche Behandlung wegen des Alters sei zulässig, „wenn sie objektiv und angemessen und durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt ist“.

3 Tipps für Pflegekräfte, die nicht mehr warten wollen    

Für alle, die in Krankenhäusern oder Pflegeeinrichtungen arbeiten, in denen verbesserte Arbeitsbedingungen bisher noch kein Thema ist:

  • Fragen Sie beim Arbeitgeber nach: Manchmal dringen interne Regelungen nicht bis auf die Pflegestation durch. Fragen Sie ganz gezielt nach, welche Lösungen Ihr Arbeitgeber für ältere Beschäftigte vorsieht.
  • Schließen Sie sich zusammen: Ein Zusammenschluss aus mehreren Pflegekräften macht Eindruck und signalisiert: „Dieses Thema ist wichtig und betrifft mehrere Personen“. Wenden Sie sich gemeinsam an die Geschäftsführung, am besten mit konkreten Vorschlägen.
  • Halten Sie Rücksprache vor dem Dienstplan-Entwurf: Viele Krankenhäuser oder Pflegeeinrichtungen berücksichtigen bereits familiäre Verhältnisse oder das Alter der Pflegekraft bei der Entwicklung der Dienstpläne. Auch hier können Sie wichtige Impulse geben und gezielt nachfragen.

Autorin: Jennifer Ann Steinort/kig 

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