Geklagt hatten die Töchter und Erbinnen eines bereits verstorbenen Pflegebedürftigen. Es ist ein tragische Fall, der hinter diesem wegweisenden ersten Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) zur Haftung eines Hausnotrufdienstes steht: Am 9. April 2012 hatte der damals 78-jährige mit Pflegestufe 2, der allein in einer betreuten Wohnung eines Seniorenwohnheims lebte, seinen Johanniter-Hausnotruf per Knopfdruck alarmiert. Minutenlang hörten Mitarbeiter der Notrufzentrale nur sein Stöhnen.
Schlaganfall-Symptome nicht erkannt
Als mehrere Telefonanrufe bei ihm scheiterten, schickte die Notrufzentrale einen Sicherheitsdienst-Mitarbeiter in die Wohnung. Diesem gelang es erst mit Hilfe eines herbeigerufenen Kollegen, den am Boden liegenden Schwergewichtigen auf eine Couch zu setzen. Beide ließen den Hilfebedürftigen allein, ohne den Rettungsdienst zu alarmieren. Zumindest der Notrufzentrale waren die Vorerkrankungen des Seniors bekannt: Atemnot, Herzrhythmusstörungen, chronischer Bronchitis, Diabetes, Bluthochdruck und Arthrose. Auch ein stark erhöhtes Schlaganfallrisiko hatten ihm Ärzte attestiert.
Johanniter verweigerte Schadensersatz
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Erst zwei Tage später entdeckten Angehörige, dass der 78-Jährige inzwischen halbseitig gelähmt war und unter Sprachstörungen litt. Diagnose der Klinik, in den sie ihn einlieferten: Vor ein bis drei Tagen hatte er einen Schlaganfall erlitten. Der Senior war sich später sicher, dass die Mitarbeiter des Hausnotrufdienstes sein Leiden zu verantworten hatten. Denn hätten sie rechtszeitig den Rettungsdienst gerufen, wären ihm die gravierenden Folgen seines Schlaganfalls erspart geblieben. Er klagte auf Schadensersatz und Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 40.000 Euro. Dagegen stritt der Johanniter-Hausnotrufdienst seine Verantwortung für den Leidensweg des Erkrankten ab und weigerte sich, ihm Schadenersatz und Schmerzensgeld zu zahlen. Nach dem Tod des Vaters ließen seine Töchter nicht locker und verfolgten seine Ansprüche gerichtlich weiter.
Helfer waren Laien
Eindeutig und in letzter Instanz urteilte in diesem Fall der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshof (BGH; Az.: III ZR 92/16 vom 11. Mai 2017) in Karlsruhe: Der Johanniter-Hausnotrufdienst hatte seine vertraglich vereinbarten Schutz- und Organisationspflichten „grob vernachlässigt“. Zwar sei er nicht für den Erfolg von Rettungsmaßnahmen verantwortlich, doch sei er verpflichtet, unverzüglich eine angemessene Hilfeleistung zu vermitteln. Genau das hätten Mitarbeiter der Zentrale aber unterlassen. „Angemessene Hilfe“ hätten die entsandten Sicherheitskräfte nicht leisten können, die nur über Erste-Hilfe-Ausbildungen verfügten.
Fehler in der Notrufzentrale
Sehr wohl habe die Notrufzentrale nach Ansicht der BGH-Richter von den Vorerkrankungen und dem Schlaganfallrisiko des Kunden gewusst. Als der Mitarbeiter dort den Notruf annahm, nur minutenlanges Stöhnen hörte und auch Telefonanrufe scheiterten, hätte er zwingend den medizinischen Notfall erkennen und einen Rettungsdienst alarmieren müssen. „Diese grobe Fahrlässigkeit führt ähnlich wie im Arzthaftungsrecht zu einer Beweislastumkehr“, urteilte der BGH. Folge: Nun muss der Hausnotrufdienst beweisen, dass die Gesundheitsschäden bei seinem Kunden auch dann eingetreten wären, wenn der Dienst alles richtig gemacht hätte.
Kritik an Berufungsgericht
Das Kammergericht Berlin hatte jedoch am 20. Januar 2016 (Az. 26 U 5/14) die Berufung der Töchter gegen ein Urteil des Landgerichts Berlin abgewiesen. Sie sollten weder Schadensersatz noch Schmerzensgeld von mindestens 40.000 Euro erhalten. Auch die verlangte Feststellung, der Hausnotrufdienst müsse für alle weiteren materiellen und immateriellen Schäden aufkommen, hatte das Landgericht abgelehnt. (Urteil vom 7.11.13; Az.: 63 O 41/13). Ulrich Hermann, Vorsitzender Richter am III. Zivilsenat des BGH, kritisierte diese juristische Bewertung der Vorinstanz schon bei der Verhandlung: „Das scheint uns schon ziemlich daneben zu sein, wie das Berufungsgericht die Sache gewürdigt hat.“
Beweislast wird nun umgekehrt
Nun muss sich das Berliner Kammergericht erneut mit dem ungewöhnlichen Fall befassen. Es hat die Höhe des Schadenersatzes zu klären und die Frage, ob die Pflichtverletzung des Hausnotrufdienstes die Ursache für die Lähmung und Sprachstörung des Mannes gewesen war. - In der Regel muss das der Kläger beweisen. Doch bei groben Behandlungsfehlern gilt nach dem BGH-Urteil die Umkehr der Beweislast: Hausnotrufdienste müssen dann wie Ärzte nachweisen, dass sie nicht für den Gesundheitsschäden von Klienten verantwortlich waren.
Hohe Schmerzensgeldforderung
„Das ist der erste Haftungsfall gegen einen Notrufdienst, von dem ich höre“, sagte Anne-Katrin Wiesemann von der Verbraucherzentrale Sachsen. Die geforderte Schmerzensgeldsumme von 40.000 Euro hält sie für vergleichsweise hoch. Selbst bei ärztlichen Behandlungsfehlern gebe es in der Regel weniger. Bei den Johannitern als auch beim Arbeiter-Samariter-Bund hat es nach eigenen Angaben bisher keine vergleichbaren Fälle gegeben.
Autor: Uwe Lötzerich