Vor 15 Jahren schilderte im vornehmen Hotel Jakobs an der Hamburger Elbchaussee eine Referentin auf einer Veranstaltung für Klinikchefs einen Fall aus einem sächsischen Krankenhaus: Eine Krankenschwester hatte dem falschen Patienten eine Natriumchlorid-Infusion angehängt. Der Fehler war nach Durchlaufen der Infusion aufgefallen, der Patient wohlauf. Die Krankenschwester aber machte sich Vorwürfe, fühlte sich zutiefst verunsichert und überlegte sogar, ihren Beruf aufzugeben. „Was sagen Sie zu diesem Fall? Wie würde Sie reagieren?“ fragte die Referentin, die als Coach in dem Krankenhaus gearbeitet hatte, in die Runde. Ein Krankenhausgeschäftsführer mit hochgeschobenen Sakkoärmeln sagte, solch ein Fehler dürfe nicht passieren, man müsse die Krankenschwester abmahnen.
Inzwischen haben Klinik-Geschäftsführungen und Fehlerkultur vielerorts sicherlich einen Modernisierungsschub erfahren. Doch die Angst der Pflegekräfte, ein Medikament falsch zu verabreichen, ist geblieben. Zwar haben viele Kliniken an ihrem Risikomanagement gearbeitet: etwa Namensarmbänder für Patienten eingeführt, ein Fehlermeldesystem (CIRS) und ein Verbot, nachts Medikamente zu stellen. Aber radikale Änderungen wie das Vieraugenprinzip sind ausgeblieben, und der Zeitdruck hat zugenommen.
Was also können Pflegekräfte unternehmen, um Fehlern bei der Medikamentengabe vorzubeugen? Der Asklepios Konzern hat für seine rund 60 Krankenhäuser eine Methode entwickelt, die extrem simpel klingt, einfach umzusetzen ist und kürzlich sogar mit einem Preis des Aktionsbündnisses Patientensicherheit prämiert wurde. Grob geschildert sieht die Methode so aus, dass jede Pflegekraft (und jede Ärztin oder Arzt) vor der Gabe eines Medikaments – besonders, wenn es intravenös verabreicht wird – innehält und sich vergewissert, dass es sich um das richtige Medikament und den richtigen Patienten handelt.
Kurz innehalten? Das mag das sein, was sich die meisten Pflegekräfte ohnehin vornehmen. Wir fragten den Krankenpfleger und Risikomanagement-Verantwortlichen bei Asklepios Reiner Heuzeroth, warum die Methode Stop-Injekt Check trotzdem nicht profan ist.
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pflegen-online: Eigentlich sollte es doch selbstverständlich sein, dass ich vor dem Verabreichen von Medikamenten noch einmal kontrolliere, ob alles korrekt ist: richtiger Patient, richtiges Medikament und richtige Dosierung et cetera?
Reiner Heuzeroth: Sicherlich, im Grunde ist das allen Mitarbeitern bekannt. Das Entscheidende ist aber, dass sich die meisten für eine letzte, nur Sekunden dauernde Kontrolle unmittelbar vor der Verabreichung keine Zeit mehr nehmen. Ich gebe Ihnen ein klassisches Beispiel: Ein Patient mit Aneurysma-Blutung – alle rennen los, holen das Medikament, welches sie brauchen und spritzen sofort. Unmittelbar danach stellt sich heraus, dass das Medikament verwechselt wurde. Ja, sicher es war ein Notfall, es musste schnell gehen. Aber diese zwei Sekunden, in denen ich mir den Beutel, den ich angehängt habe, noch einmal anschaue - diese zwei Sekunden sollte ich mir nehmen, um in diesem entscheidenden Moment ganz sicher zu sein.
Dies ist wirklich ein entscheidender Moment im hektischen Stationsablauf: Die Verordnung ist korrekt übertragen, das richtige Medikament mit dem Vier-Augen-Prinzip aufgezogen beziehungsweise gerichtet. Nun wird aber das, was gerichtet ist, nicht immer von dem gegeben, der es verabreicht. Deshalb ist „Stop-Injekt Check“ als eine letzte Kontrolle so wichtig und wirksam: unmittelbar, wenn ich am Patienten stehe. In diesem Moment muss ich mich fragen: Ist das Frau Müller, die genau dieses Medikament bekommen soll – die Spritze muss dafür natürlich eindeutig beschriftet sein.
Und Sie glauben, dass viele Pflegekräfte und Ärzte diesen Moment des Innehaltens verpassen?
Ja, das glaube ich. Die Mehrzahl der Leute, denen ein solcher Fehler passiert ist, berichten, dass sie schon bei der Medikamentengabe ein unsicheres Gefühl hatten und sich hinterher fragten, ob es das Richtige war. In dem Moment selbst aber waren sie getrieben und sagten sich: „Wird schon stimmen.“
Doch die kurze Phase des anschließenden Grübelns gilt es vorzuverlegen – vorzuverlegen in die Phase, in der sich ein Fehler noch abwenden lässt. Genau darum geht es bei „Stop-Injekt Check“: Die Reflexionsschleife soll einfach vor die Verabreichung vorverlegt werden.
Muss sich nicht jeder selbst in einer solchen Situation ständig vergewissern?
Ja, aber das klappt am besten durch Bewusstmachung. Dadurch, dass einem klar wird, dass die Medikamentengabe niemals banal ist und „irgendwie schon gut gehen wird“. „Stop-Injekt Check“ macht die Medikamentengabe eindeutig sicherer und deshalb erinnern wir regelmäßig an sie: in den Standardschulungen zur sicheren Patientenidentifikation und zu Pflegestandards etwa – aber auch in den Audits, in denen von außen auf die Prozesse einer Abteilung geschaut wird, sowie bei den Zentrumszertifizierungen.
Außerdem gibt es immer wieder Schulungen speziell zum Thema Medikationssicherheit, möglichst mit regelmäßigen Wiederholungen. Mitarbeiter äußern auch immer wieder den Wunsch, das Thema sichere Medikamentengabe aufzufrischen. Das ist sinnvoll, weil sich eine gute Gewohnheit natürlich auch abschleifen kann.
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Woran erkennen Sie, dass die Pflegekräfte und Ärztinnen „Stop-Injekt Check“ tatsächlich leben?
In unserem Fehlermeldesystem, dem „Critical Incident Reporting System“, kurz CIRS, schreiben immer wieder Mitarbeiter als Empfehlung, dass wir die „Stop-Injekt Check“ Methode noch mehr nutzen sollten.
Außerdem haben in einer Mitarbeiter-Befragung 39 Prozent berichtet, dass sie mit „Stop-Injekt Check“ tatsächlich schon falsche Medikamentengaben verhindert haben. 87 Prozent meinen, dass man mit „Stop-Injekt Check“ grundsätzlich sehr gut Fehler vermeiden kann, 80 Prozent sind überzeugt, dass die Methode ohne Aufwand umsetzbar ist.
Das sind doch wirklich eindeutige Ergebnisse: „Stop-Injekt Check“ ist einfach, kostet nichts, hat eine hohe Akzeptanz und einen nachgewiesenen Nutzen. Es zeigt auch, dass oft einfache Methoden und Regeln mehr bewirken als hochkomplexe.
In welchen Situationen raten Sie zu „Stop-Injekt Check“?
Die Idee ist im Zusammenhang mit Intravenösen Gaben entstanden, aber „Stop-Injekt Check“ ist auch bei anderen Vergabeformen sinnvoll: etwa bei intramuskulären und subkutanen Spritzen. Im Grunde bei allen Vorgängen, bei denen es gilt, Fehler zu vermeiden: also auch bei der Tablettengabe ... und sie funktioniert selbst bei E-Mails.
Über Reiner Heuzeroth
Der gelernte Krankenpfleger arbeitet als augebildeter Klinischer Risikomanager im zentralen Konzernbereich Qualität des Asklepios Konzerns. Dort ist er verantwortlich für das Thema Patientensicherheit und klinisches Risikomanagement.