„Ein wichtiger Faktor in der Sturzprophylaxe ist die Angst der Patienten vor Stürzen“, sagt Ute Heisterhagen, zertifizierte (MH) Kinaesthetics Trainerin am Klinikum Stuttgart. Sie beobachtet, dass viele Patienten unsicher auf den Beinen sind und sich fürchten hinzufallen. Die Furcht erzeugt eine höhere Körperspannung, die es schwerer macht, sich selbst im Gleichgewicht zu halten. „Und wer sehr angespannt ist, kann keine weichen Bewegungen mehr ausführen. Die sind jedoch wichtig, um Stürze zu vermeiden.“
Die Angst vor dem Sturz erhöht die Sturzgefahr
Ute Heisterhagen beruft sich auf die Kernaussage von Kinästhetik: „Die Art und Weise, wie wir unser Gewicht in der Schwerkraft organisieren, hat einen positiven oder negativen Einfluss auf unsere Gesundheit.“ Die Kinästhetik-Expertin erlebt viele Patienten, die Angst haben, im Falle eines Sturzes nicht mehr alleine aufstehen zu können. „Diese Hilflosigkeit ist für sie beängstigend.“ Deshalb hat Ute Heisterhagen sowohl mit Patienten als auch mit Pflegekräften (in Zusammenhang mit den Patienten) das Aufstehen geübt. „Die Patienten wissen dann: Wie komme ich langsam und halbwegs kontrolliert zu Boden und wie kann ich wieder aufstehen. Das Wissen darum gibt eine große Sicherheit und ein besseres Gefühl beim Fortbewegen.“
Kinästhetik fördert das Körpergefühl auch bei Bettlägerigkeit
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Sylke Modersitzki, Pflegefachexpertin und MH Kinaesthetics Trainerin am Klinikum Oldenburg setzt Kinästhetik auch bei Patienten ein, die nach Operationen oder Unfällen zunächst bettlägerig sind. „Dadurch gelingt die Mobilisation häufig früher und sicherer. Die Patienten entwickeln so ein gutes Körpergefühl und ihre Bewegungsfähigkeit nimmt zu – eine gute Vorbeugung gegen Stürze.“
Die Grundidee der Kinästhetik beruht auf der bewussten Wahrnehmung des eigenen Körpers und seinen Bewegungen. Der Mensch wird betrachtet als Gesamtheit von Körper, Geist und Umwelt. Deshalb spielen auch Achtsamkeit, Respekt und Einfühlungsvermögen in der Kinästhetik eine große Rolle. Um Kinästhetik erfolgreich mit dem Patienten üben und anwenden zu können, ist gegenseitiges Vertrauen unabdingbar. Denn einige Abläufe erfordern engen körperlichen Kontakt, da Patient und Pflegekraft die Bewegungen zusammen ausführen. Der Patient wird durch die Bewegungen der Pflegekraft angeleitet. Sylke Modersitzki: „Man kann es ein wenig mit dem Tanzen vergleichen. Tanze ich als ungeübter Tänzer mit einem Profi, leitet er mich durch seine eigenen Bewegungen.“
Die zwei Prinzipien der Kinästhetik: Massen und Zwischenräume
Pflegekräfte sollten Kinästhetik von zertifizierten Trainern lernen. Das ist nicht nur für die Patienten wichtig: Pflegekräfte lernen dabei auch, wie sie selbst rücken- und gelenkschonend den Pflegealltag bestreiten können. Zwei Prinzipien sind in der Kinästhetik zentral:
- Massen fassen – mit „Massen“ sind Körperteile gemeint wie Kopf, Brustkorb, Becken, beide Arme und die beiden Beine
- Zwischenräume frei lassen – nicht anfassen – mit „Zwischenräumen“ sind die beweglichen, empfindlichen Anteile zwischen den Massen gemeint: Hals, Taille, Leiste, Schulter
Ein Beispiel: Um einem Patienten aufzuhelfen, sollte man den Brustkorb unterstützen, damit er aus den Schultern heraus die Arme selbständig einsetzen kann. So kann er seine Bewegungen selbst steuern.
Seitdem die Kinästhetik in den 70er Jahren entwickelt wurde, wird findet sie weltweit Einsatz in Pflege- und Betreuungseinrichtungen. Durch die Bewegungserfahrung verbessert sich die Körperwahrnehmung und die Fähigkeit der Patienten, den eigenen Körper im Gleichgewicht zu halten. So bleiben Selbstbestimmung und die Fähigkeit, sich selbst zu mobilisieren, länger erhalten: Die Lebensqualität von Pflegebedürftigen erhöht sich deutlich und die Pflegekräfte werden entlastet.
Ute Heisterhagen und Sylke Modersitzki haben ihre Ausbildung zur MH Kinaesthetics Trainerin bei Kinaesthetics Movement Learning Health (KMLH) absolviert. Diese Organisation hat ihre Trainings zusammen mit den Kinästhetik-Initiatoren Dr. Frank Hatch und Dr. Lenny Maietta entwickelt.
Die Kurse werden an verschiedenen Standorten in Deutschland und Österreich angeboten – hier erfahren Sie, wo genau.
Praxis-Beispiele für Kinästhetik in der Sturzprophylaxe
Einen Patienten beim Gehen unterstützen
- Vor dem Losgehen gemeinsam mit dem Patienten besprechen, wohin er gehen und welche Wege er dafür nutzen möchte.
- Der Patient sagt der Pflegekraft, welche Unterstützung er für seine Sicherheit benötigt, zum Beispiel indem sie ihn am Unterarm stützt.
- Nun kann es losgehen, der Patient bestimmt dabei das Tempo.
Anleitung, um sicher vom Sitzen ins Stehen zu kommen
Viele Patienten haben Schwierigkeiten beim Aufstehen und fürchten, dabei zu stürzen. Manchmal helfen schon kleine Veränderungen des Bewegungsablaufs, um den Vorgang sicherer zu gestalten:
- mit dem Gesäß an Stuhl- oder Bettkante rutschen
- den Schwerpunkt des Oberkörpers durch Vorbeugen nach vorne verlagern
- gegebenenfalls feststehende Möbel oder Gegenstände zum Festhalten, Hochziehen oder Abstützen nutzen
- erkennen (erspüren), wie viel Zeit man tatsächlich für die Bewegungen benötigt, und sich diese auch zu geben. Oft passieren Stürze, weil der Patient gehetzt ist: der Körper ist noch nicht wieder im Gleichgewicht oder der Kreislauf muss sich nach längerem Liegen oder Sitzen erst stabilisieren.
- gegebenenfalls muss die räumliche Umgebung angepasst werden. Es könnte beispielsweise sinnvoll sein, mehr Platz rund um das Bett zu schaffen, damit der Patient die Bewegung besser ausführen kann.
Autorin: Melanie Thalheim