Gewalterfahrungen gehören für viele beruflich Pflegende zum Alltag. Studien und Befragungen kommen je nach Erhebungsort zu ähnlichen Ergebnissen: Rund jeder Dritte berichtet, dass Maßnahmen gegen den Willen von Patienten, Bewohnern und Pflegebedürftigen alltäglich seien. Wie sich die Gewalt äußert, ist dabei unterschiedlich. Sie reicht von verbalen Entgleisungen über körperliche und sexualisierte Gewalt, von Medikamentenmissbrauch über die Missachtung der Privatsphäre bis hin zu Ausgrenzung. Prof. Dr. Michael Löhr, Lehrstuhl für Psychiatrische Pflege an der Fachhochschule der Diakonie in Bielefeld, hat sich intensiv mit dem Thema beschäftigt.
Herr Löhr, findet Gewalt gegen Patienten und Pflegebedürftige absichtlich statt?
Die Entstehung von Gewalt ist ein vielschichtiges Thema. Wenn wir über das Thema Gewalt von Pflegenden gegenüber Dienstleistungsnutzern sprechen, so sind hier unterschiedliche Entstehungsfaktoren bekannt. Wir bewegen uns in einer Zeit des chronischen Personalmangels in allen Pflege-Settings. Hier kommt es regelhaft zu Überforderungssituationen, die bei fehlender Selbstreflexion und Selbsterfahrung beispielsweise zu verbalen Entgleisungen führen kann, die durchaus Gewaltpotenzial besitzen können. Grundsätzlich möchte ich keinem Pflegenden unterstellen, absichtlich, nicht legitimierte Gewalt anzuwenden. Dies würde bedeuten, dass die Ausübung von Gewalt mit Vorsatz geschieht. Vielmehr können wir davon ausgehen, dass Gewalt gegenüber Dienstleistungsnutzern dann reduziert werden kann, wenn die Pflegefachpersonen selbstreflektiert sind, sie in Selbsterfahrung geschult und geübt sind und entsprechendes Wissen zur Entstehung von Konflikten vorliegt. Am Ende braucht es dafür Zeit und Bildung. Was häufig übersehen wird ist, dass es sich bei dem Thema Gewalt in Gesundheitsinstitutionen um ein Thema aller Berufsgruppen und Hierarchieebenen handelt. Danach sollten sich Konzepte und Strategien ausrichten. Safewards ist ein Beispiel dafür, wie diese unterschiedlichen Dimensionen sinnvoll miteinander verbunden werden können.
In der Psychiatrie gibt es das Modell „Safewards", das aufzeigt, dass Pflegepersonen die Häufigkeit von Konflikten und Eindämmungsversuchen auf ihrer Station auf jeder Ebene beeinflussen können. Gilt das auch für andere Bereiche der Pflege?
Definitiv! Auch wenn das Safewards-Modell für die Psychiatrie entwickelt wurde, besitzt das Modell und die Safewards-Interventionen das Potenzial auch in anderen Settings zur Reduzierung von Konflikten und restriktiven Eindämmungsmaßnahmen, zum Beispiel Fixierungen, beizutragen. Die Entstehungsfaktoren von Konflikten unterscheiden sich nur bedingt vom Setting. Grundsätzlich kann Safewards zur Sicherheit von Mitarbeitern und Dienstleistungsnutzern einen wichtigen Beitrag leisten. Vor dem Hintergrund das zunehmend Mitarbeiter aus allen Bereichen und allen Settings frühzeitig den Beruf aufgrund von gemachter Gewalterfahrung verlassen, sollte dem Thema eine größere Bedeutung zukommen.
Gewalt erzeugt Gegengewalt. Das gilt auch verbal. Müsste in der Pflege das Thema gewaltfreie Kommunikation nicht eines der wichtigsten Fächer auf dem Lehrplan werden?
Es ist von großer Bedeutung, dass Pflegefachpersonen nicht nur die Entstehungsfaktoren von Gewalt kennen. Auch sollten Sie über wirksame Interventionsstrategien verfügen, um Konflikte zu verhindern. Das ist eine primär präventive Perspektive, zu der auch Themen wie die gewaltfreie Kommunikation gehören. Sicherheit entsteht nicht unbedingt durch Erlernen von Schutztechniken, die erst zum Tragen kommen, wenn der Konflikt ernsthafte Züge annimmt. Vielmehr geht es um reflektierte Beziehungs- und Milieuarbeit.
Prof. Dr. Michael Löhr ist Referent beim Deutschen Pflegetag
„Gewalt - Lösungsstrategien im Team“ heißt ein Workshop beim Deutschen Pflegetag in Berlin am Donnerstag, 15. März 2018, von 16 bis 17 Uhr. Prof. Dr. Michael Löhr packt das Übel bei der Wurzel und zeigt, wie gute Teams Konflikte und daraus resultierende Maßnahmen reduzieren können oder im besten Fall gar nicht erst entstehen lassen. Hier geht es direkt zur Anmeldung
Interview: Kerstin Werner