Während der traditionelle Kiosk ums Eck mit Zeitung, Zigaretten und Brötchen gerade ums Überleben kämpft, nimmt der „Gesundheitskiosk“ so richtig Fahrt auf. Vorreiter für das Modell ist die Freie Hansestadt Hamburg. Mit einem durch den Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses geförderten Projekt startete 2017 in den Stadtteilen Billstedt und Horn der Aufbau eines regionalen, integrierten Gesundheitsnetzwerks mit Fokus auf Prävention, Gesundheitsförderung und -erhaltung. Im Gesundheitskiosk arbeiten sieben Pflegefachkräfte an drei Standorten.
Viele Pflegefachkräfte mit Studium und Migrationshintergrund
Cagla Kurtcu (32) ist examinierte Krankenpflegefachkraft und nach einem dualen Bachelor-Master-Studium außerdem Advanced Practice Nurse (APN). Seit einem Jahr arbeitet sie im Gesundheitskiosk Billstedt Horn. Die Vorzüge ihrer Arbeit kann sie schnell benennen: regelmäßige Arbeitszeiten, keine Nachtschichten, freie Wochenenden, Zeit für die Patienten. „Wir machen hier wirklich Bezugspflege. Im Krankenhaus hat man oft nur zwei bis drei Minuten pro Patient Zeit, hier ist es mindestens eine halbe Stunde“, sagt Kurtcu. Mittlerweile hat sie auch eine Leitungsfunktion übernommen. Ein- bis zweimal im Monat arbeitet sie aber auch noch im Krankenhaus, um den Kontakt zur Pflege am Bett nicht zu verlieren. Als Konkurrenz zur Krankenpflege versteht sie sich dennoch nicht: im Gegensatz zu Krankenhäusern sind in den Kiosken überwiegend akademisierte Pflegefachkräfte tätig – sehr viele von ihnen mit Migrationshintergrund. „Der ist für unsere Arbeit sehr wichtig“, sagt Pressesprecher Klaus Balzer.
Krankenkassen grummeln
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Das Hamburger Projekt soll nun Schule machen: Rund 1.000 solcher Gesundheitskioske will Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach bundesweit etablieren, um die medizinische Versorgung in sozial benachteiligten Stadtteilen zu verbessern. Die Kioske sollen pro 80.000 Einwohner errichtet werden. „Im Vordergrund muss die Armut des Stadtteils stehen“, fordert Lauterbach. Initiiert werden die Kioske von den Kommunen.
Die Krankenkassen sind allerdings wenig amüsiert: Sie sollen zu drei Viertel für die Kosten aufkommen. Die privaten Versicherungen werden lediglich mit fünf Prozent belangt, die Kommunen immerhin mit 20 Prozent. Doch das Projekt ist effektiv: Eine Evaluation des Hamburg Center for Health Economics der Universität Hamburg belegt, dass der Gesundheitskiosk den Zugang zur Versorgung verbessert, zur Zufriedenheit der Patienten beiträgtund die Ärzte entlastet.
Jeder der möchte, kann den Gesundheitskiosk aufsuchen
Doch was genau passiert in den Gesundheitskiosken? Die Mitarbeiter sind wichtige Gesundheitslotsen, die Menschen vor Ort auf ihrem Weg zu einer geeigneten Behandlung begleiten. Grundsätzlich können alle Bürger das Angebot nutzen - unabhängig davon, bei welcher Krankenkasse sie versichert sind. Es können chronisch Erkrankte sein oder besonders belastete Menschen. Die Patienten können sich auch zunächst einfach nur beraten lassen und informieren, welche Versorgungsangebote sie vor Ort nutzen können.
Wie funktioniert es nun genau? Interessierte können entweder auf Empfehlung ihres Arztes oder einer sozialen Einrichtung, aber auch auf eigene Initiative in den Gesundheitskiosk kommen. Das Erstgespräch dauert in der Regel 45 bis 60 Minuten. Gemeinsam mit den Besuchern wird eine ausführliche Anamnese erarbeitet, in der sowohl die medizinische als auch die soziale Situation erfasst werden. Ziel ist, die Besucher von Beginn zu animieren, die Verantwortung für ihre Gesundheit selbst beziehungsweise gemeinsam mit den Gesundheitslotsen in die Hand zu nehmen – soweit dies möglich ist.
Jede Pflegefachkraft hat ihre festen Patienten
Die Gesundheitslotsen entwickeln gemeinsam mit den Patienten bei Bedarf Veränderungswünsche, entwickeln realistische Ziele für den Gesundungsprozess und formulieren eine Zielvereinbarung. Diese werden auf einer eigens dazu entwickelten Zielvereinbarungskarte festgehalten und sind Grundlage für die weiteren Beratungsgespräche. Die Folgegespräche dauern etwa 30 Minuten und werden nach Möglichkeit immer von demselben Teammitglied übernommen.
Vor allem chronisch Erkrankte werden eingeladen, die Gesundheitsangebote längerfristig in Anspruch zu nehmen. Die behandelnden Ärzte stehen mit den Kioskmitarbeitern in engem Kontakt und lassen sich, das Einverständnis der Patienten vorausgesetzt, regelmäßig über den Stand der Gesundheitsberatungen informieren.
Beratung im Gesundheitskiosk in sieben Sprachen
Die multikulturellen Teams beraten die Bürger in sieben Sprachen: Polnisch, Russisch, Arabisch, Dari/Farsi, Türkisch, Englisch und Deutsch. Die Angebote im Gesundheitskiosk orientieren sich am persönlichen Bedarf und sind ganzheitlich ausgerichtet. Das multiprofessionelle und mehrsprachige Team berät die Menschen vor und nach Arztbesuchen, zu Impfungen und kontrolliert regelmäßig ihre Vitalparameter wie Blutdruck oder ihren BMI.
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Die neun Angebote der Hamburger Gesundheitskioske
So beschreiben die Hamburger Gesundheitskioske ihre Leistungen:
- Wir erfassen gemeinsam mit Ihnen alle von Ihnen eingenommenen (verordnete und nicht verordnete) Arzneimittel in einer Liste und übermitteln diese zur weiteren Bearbeitung und Besprechung durch Ihren Arzt/Ärztin.
- Wir unterstützen Sie bei der Suche von Haus-/ und Fachärzt:innen und bei Terminverabredungen mit den Ärzt:innen. In begründeten Fällen kümmern wir uns um einen bevorzugten Termin bei Ihrem Arzt/Ihrer Ärztin.
- Wir sorgen für Verständlichkeit, indem wir mit Ihnen gemeinsam nach Ihrem Arztbesuch die Diagnose, Ihre Symptome, die verordnete Therapie und die Nachsorge ausführlich besprechen. Wir möchten, dass Sie Ihre Krankheit verstehen und dann auch selbst aktiv werden können.
- Wir sprechen in regelmäßigen Abständen mit Ihrem Arzt/Ihrer Ärztin über Ihren aktuellen Gesundheitszustand und stimmen uns eng darüber ab, was Sie von uns im Gesundheitskiosk an Beratung und Begleitung bekommen können.
- Wir klären Sie über die die Funktionsweise des deutschen Gesundheitssystems und den Leistungsansprüchen, die Sie haben, auf.
- Wir klären Sie über die die Funktionsweise des deutschen Gesundheitssystems und den Leistungsansprüchen, die Sie haben, auf.
- Wir beraten Sie, wenn Sie aus anderen Kulturkreisen kommen, in Ihrer Muttersprache über Impfung, Vorsorge, Arzneimitteleinnahme, und darüber, was Sie selbst für Ihre eigene Gesundheit tun können.
- Wir helfen Ihnen bei der Beantragung von Folgebehandlungen wie zum Beispiel Rehamaßnahmen, Kuren, oder auch Rentenanträgen einschließlich der Aufbereitung und Organisation der Unterlagen und Daten, die für die Folgebehandlung notwendig sind.
- Wir vermitteln Sie bei Bedarf in die Zusammenarbeit mit anderen Einrichtungen der Gesundheitsförderung, mit Kinder-Tages Einrichtungen, Schulen, Senioreneinrichtungen, Stadtteilvereinen.
- Bei uns erhalten Sie ausführliche Informationen über Impfungen.
Autorin: Birgitta vom Lehn