Zwei Drittel, mindestens aber die Hälfte aller Todesfälle, die im Zusammenhang mit Covid-19 stehen, könnten hierzulande auf Bewohner in Alten- und Pflegeheimen entfallen. Hierauf macht das Deutsche Netzwerk Evidenzbasierte Medizin (EbM) aufmerksam. Das EbM moniert zugleich, dass eine systematische Datenerhebung, Dokumentation und Berichterstattung in Einrichtungen mit Covid-19-Toten fehlt. Auch die näheren Umstände und Ursachen der Todesfälle von Pflegeheimbewohnern blieben weitgehend ungeklärt. Deshalb könne man weder beurteilen noch abschätzen, ob die bereits ergriffenen Maßnahmen wirken. Auch bleiben unklar, welche erwünschten oder unerwünschten Auswirkungen die Maßnahmen auf das Krankheitsgeschehen haben, heißt es in einer Pressemitteilung des Netzwerks.
„Handreichung“ aus dem Bundesgesundheitsministerium nicht ausreichend
Die Anfang Dezember veröffentlichte Handreichung des Pflegebevollmächtigten Andreas Westerfellhaus zu den Besuchsregelungen in Pflegeheimen könne zudem „nicht darüber hinwegtäuschen, dass ein wissenschaftsbasiertes konzertiertes Vorgehen, maßgeblich informiert und begleitet durch entsprechende Pflegeforschung, fehlt“. Behörden aufzustocken sei keine Lösung. Erkenntnisse über hilfreiche Versorgungsstrategien für die Langzeitpflege ließen sich auf diese Weise nicht generieren. Das Netzwerk fordert stattdessen „erneut und nachdrücklich, sich um eine wissenschaftliche Herangehensweise für den Erkenntnisgewinn zur Versorgung dieser besonders vulnerablen Gruppe pflegebedürftiger Menschen zu bemühen“.
Studien in Frankreich und den USA
Jobportal pflegen-online.de empfiehlt:
Tatsächlich gibt es im Ausland schon vielversprechende Studien, die den Sinn und die Notwendigkeit solcher Forschungsarbeiten bestätigen. Darauf machen die Pflegewissenschaftler Andreas Sönnichsen von der Universität Wien und Gabriele Meyer von der Universität Halle-Wittenberg in einem Beitrag für das Januar-Magazin der Kassenärztlichen Vereinigung Hamburg aufmerksam, der bereits online erschienen ist.
Studie Beispiel 1: Freiwillige Isolation
17 Pflegeheime, deren Pflegekräfte sich freiwillig mit den Bewohnern in den Heimen isoliert hatten (das Personal blieb abgesehen von wenigen Ausnahmen sieben Tage durchgehend im Heim, dann erfolgte ein Schichtwechsel), wurden verglichen mit Heimen, die diese Maßnahme nicht durchgeführt hatten. Ergebnis: Die Covid-19 assoziierte Todesfallrate lag in den 17 Heimen mit Maßnahme um geschätzte 80 Prozent unter der Rate der Heime ohne Maßnahme.
Lesen Sie zu diesem Thema auch unseren Artikel
Studie Beispiel 2: Präventives Testen
Eine Studie untersuchte die Wirksamkeit von vorsorglichem Testen in 28 Pflegeheimen. In 13 Heimen, in denen präventiv das gesamte Personal und alle Bewohner getestet wurden, erkrankten 17 von 1.163 Personen (Personal und Bewohner) und drei Bewohner starben (0,26 Prozent). In 15 Vergleichseinrichtungen, in denen erst nach Auftreten des ersten Erkrankungsfalls getestet wurde, erkrankten 723 von 1.705 Personen und 109 starben (6,4 Prozent). Aus diesen Zahlen lässt sich den Forschern zufolge schätzen, dass das präventive Testen die Todesrate relativ um 96 Prozent reduziert hat.
Studie Beispiel 3: Bereichsunterteilung mit festem Personal
Eine Studie verglich die Wirksamkeit des Unterteilens von Pflegeheimen in Bereiche und die strikte Zuteilung des Personals zu einzelnen Bereichen (74 Pflegeheime) versus Heime ohne diese Unterteilungs-Maßnahme (50 Heime). Die Wissenschaftler errechneten für die Heime mit Bereichsunterteilung eine relative Risikoreduktion um 71 Prozent.
Studie Beispiel 4: FFP2-Masken versus chirurgische Masken
Sämtliche drei Studien müssten allerdings noch einmal überprüft werden, betonen Sönnichsen und Meyer, um die Effekte wissenschaftlich abzusichern. Als weitere Möglichkeiten, Pflegeheimbewohner zu schützen, nennt das Autorenduo:
- das konsequente Tragen von FFP2-Masken während des unmittelbaren Kontakts bei der Pflege
- die Verpflichtung für Besucher FFP2-Masken in der Pflegeeinrichtung zu tragen
- Schnelltests für alle Besucher vor Betreten des Pflegheims.
Allerdings fehlten auch zu dieen Vorkehrungen bislang Studienprotokolle, mahnen Andreas Sönnichsen und Gabriele Meyer. Wie wirksam FFP2-Masken für Pflegkräfte und Besucher sowie Schnelltests (für Besucher) seien, müsste noch überprüft werden.
Können FFP2-Masken Leben retten? Das muss jetzt endlich erforscht werden!
Das Autorenduo regt an, in kontrollierten Studien aussagekräftige Parameter wie die Häufigkeit von Covid-19-Erkrankungen und damit in Verbindung stehende Todesfälle für Pflegeheime, die nur chirurgische Masken für das Personal und die Besucher nutzen, mit solchen Einrichtungen zu vergleichen, in denen auch FFP2-Masken eingesetzt werden. Tests und Masken müssten selbstverständlich durch öffentliche Mittel finanziert und bereitgestellt werden.
Die Möglichkeiten für einen nachhaltigen und sozial verträglichen Schutz von vulnerablen Personen seien bisher in der Pandemie „bei weitem nicht ausgeschöpft“ und müssten „dringend in den Vordergrund rücken, um die soziale ‚Tragödie‘ der Pflegeheimbewohner nicht weiter willfährig zu tolerieren“, betonen Sönnichsen und Meyer.
Gefährliches Vakuum, wenn MDK und Angehörige Heime nicht mehr besuchen
Auch warnen sie vor einem „gefährlichen Vakuum“, das entstanden sei, weil einerseits der Medizinische Dienst der Krankenversicherung seine Qualitätsprüfungen weitgehend ausgesetzt und Dokumentationspflichten gelockert habe, und andererseits nicht einmal Angehörige und Besucher eine soziale Kontrolle wahrnehmen können. Dadurch bestehe ein erhöhtes Risiko für Vernachlässigung, Gewalt und reduzierte Pflege- und Versorgungsqualität.
Autorin: Birgitta vom Lehn