Es hat etwas von einem seit Jahren erwarteten Sportfest, bei dem 50 Sportler bei einem 1000-Meter-Lauf möglichst gemeinsam ins Ziel kommen wollen. Drei Prominente als Schirmherr*innen, jahrelanges Training, Startknall, lossprinten, durchhalten. Doch plötzlich, in der Zielgeraden, was ist da los? Statt die Athleten anzufeuern, rufen zwei Trainer vom Aschenbahnrand aus: „Wir sind im falschen Stadion!“
Flächentarifvertrag: Heil, Giffey und Spahn ziehen an einem Strang
Weil die Menschen immer älter werden und viel zu wenig Pflegekräfte da sind, und weil die Schere zwischen beidem bedrohlich auseinandergeht, schmieden drei Bundesminister im 2018 ein Bündnis für einen gesamtgesellschaftlichen Kraftakt: Jens Spahn (CDU, Gesundheit), Franziska Giffey (SPD, Familie und Senioren) und Hubertus Heil (SPD, Arbeit und Soziales): Die Konzertierte Aktion Pflege – kurz die KAP. 50 Institutionen aus dem Gesundheitswesen vereinen sie zu einer kraftvollen Mannschaft: Krankenkassen, Wohlfahrtsverbände, Kirchen, Berufsgenossenschaften, Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände, Deutscher Pflegerat und Pflegekammern. Ihr gemeinsames Ziel: Endlich ernst machen. Den Pflegeberuf so attraktiv machen, dass spürbar mehr Menschen ihn ergreifen – nicht nur, aber vor allem dank besserer Bezahlung.
Arbeitsministerium strebt seit Jahren einheitlichen Mindestlohn an
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Das Bundesarbeitsministerium hatte schon seit Jahren das Ziel verfolgt, bundesweit einen einheitlichen Mindestlohn für alle Pflegekräfte Wirklichkeit werden zu lassen. Der Clou daran: Egal ob der Träger der Einrichtung privat, kirchlich oder freigemeinnützig ist: Alle sollten Dasselbe bekommen. Weil der Staat in Deutschland (aufgrund der Tarifautonomie) für solche Dinge eigentlich nicht zuständig ist, war es das Ziel, einen von Sozialpartnern geschlossenen Tarifvertrag per Rechtsverordnung auf die gesamte Pflegebranche auszudehnen und für allgemeinverbindlich zu erklären. Dies ist möglich durch Paragraf 7a aus dem Arbeitnehmerentsendegesetz und kann etwa mit „öffentlichem Interesse“ gerechtfertigt werden). Nur: Dieser Tarifvertrag existierte lange nicht.
Mindestens 3.000 Euro für Pflegefachkraft
Mitte 2019 dann entstand mit der „Bundesvereinigung Arbeitgeber in der Pflegebranche" (BVAP) ein neuer Arbeitgeberverband, der sich zum Ziel setzte, genau solch einen Tarifvertrag für die gesamte Branche auszuhandeln. Hinter ihm stehen Pflegeanbieter und Wohlfahrtsverbände wie der Arbeiter-Samariter-Bund (ASB), die Arbeiterwohlfahrt (AWO), der Paritätische Gesamtverband und die Volksolidarität. Soeben, Anfang Februar 2021, haben BVAP und die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di den Pilot-Tarifvertrag besiegelt – die wichtigsten Punkte:
- Er sieht für examinierte Pflegekräfte ab 1. August 2021 ein Mindeststundenentgelt von 16,10 Euro vor, das sich in drei weiteren Stufen bis 1. Juni 2023 auf 18,75 Euro steigern soll. Damit stiege das Monatsgehalt für Pflegefachpersonen über die 3.000-Euro-Marke.
- Das Personal in der Altenpflege hat demnach künftig außerdem einen Anspruch auf 28 Urlaubstage pro Jahr
- vorgesehen ist auch ein Urlaubsgeld von mindestens 500 Euro
Insider bezeichnen den Abschluss als „ambitioniert“. Zum 1. Juli 2021 schon soll er in Kraft treten.
[Was würde der Tarifvertrag für Pflegehelfer und Pflegehilfskräfte bedeuten? Das erfahren Sie in unserem Artikel Verdienen alle Examinierten bald 3.137 Euro?]
Caritas und Diakonie müssen noch zustimmen
Ein bundesweit einheitlicher Standard für einen Mindestlohn in der Pflegebranche liegt damit erstmals in greifbarer Nähe. Noch zustimmen müssen aus gesetzlichen Gründen die Tarifkommissionen der kirchlichen Trägerorganisationen Caritas und Diakonie. „BVAP und ver.di sind zuversichtlich, dass die kirchlichen Wohlfahrtsverbände Caritas und Diakonie den gemeinsamen Weg zu flächendeckend wirkenden Arbeitsbedingungen unterstützen“, erklärten Arbeitgeberverband und Gewerkschaft nach Besiegelung ihres Tarifvertrags. Und dass sie dies tun würden – davon ging die Branche bisher auch aus. Schließlich ging die „Konzertierte Aktion Pflege“ von 50 Organisationen und Institutionen der Pflege ging vor bald drei Jahren an den Start – mit attraktiveren Löhnen als zentralem gemeinsamem Ziel. Auch die jetzt festgemachten tariflichen Eckdaten für den Mindestlohn sind seit einem halben Jahr bekannt.
Plötzlich melden sich Fundamentalkritiker zu Worte
Doch jetzt, kurz nach der Anhörung der Kirchen im Verfahren – und mitten auf der Zielgeraden des arbeitsreichen Mindestlohnprojekts – melden sich zur Überraschung vieler die kirchlichen Dienstgeber mit einer Fundamentalkritik zu Wort. Der Verband Diakonischer Dienstgeber (VdDD) und die Caritas-Dienstgeber fordern in einem FAZ-Artikel einen Neuanfang auf Basis der Pläne von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU), der einen anderen Weg gehen will, um höhere Pflegegehälter zu erreichen.
Gesundheitsminister Jens Spahn wartet mit weicher Alternative auf
Spahns Alternativansatz sieht vor, dass die Refinanzierung von Personalkosten durch die Pflegeversicherung daran gekoppelt ist, dass Heime und Dienste einem Tarifvertrag entsprechend vergüten. Das klingt auf den ersten Blick nicht schlecht. Allerdings kann das jede beliebige Form von Tarifvertrag sein – schlimmstenfalls auch ein für Arbeitnehmer „schlechter“ Haustarifvertrag. Genau das aber will das SPD-geführte Arbeitsministerium durch den für allgemeinverbindlich erklärten Flächentarifvertrag verhindern, von dem man nicht nach unten abweichen kann – nach oben natürlich jederzeit gerne.
[Was die privaten Arbeitgeber über den Flächentarifvertrag denken, erfahren Sie ebenfalls in unserem Artikel Verdienen alle Examinierten bald 3.137 Euro?]
Kirche legt seit jeher Wert auf ihren „Dritten Weg“
Die Kirche legt seit jeher Wert auf ihren Sonderstatus, auf ihr eigenes Arbeitsrecht – parallel zum regulären, auf das Recht, ihre eigenen Arbeitsbedingungen ohne Tarifverträge intern zu regeln. Deshalb ist vielen dort ein trägerübergreifender „Einheitsmindestentgelt-Tarifvertrag“ ein Dorn im Auge, erst recht einer, der von nicht-kirchlichen Organisationen abgeschlossener. Trotzdem: Die Kirchenleitungen hätten innerhalb der „Konzertierten Aktion“ längst signalisieren können, dass sie da nicht bereit sind mitzuspielen. Getan haben sie es aber nicht.
Machen die kirchlichen Dienstgeber drei Jahre Arbeit zunichte?
In einem jahrelangen Prozess arbeiteten Politik und Verbände nun an einer Lösung – „und jetzt kommt kurz vor knapp auf einmal so eine Irritation, so ein Riesenfragezeichen“, wundert sich ein Branchen-Insider. Geäußert haben sich hier freilich die kirchlichen Dienstgeber – und nicht die kirchlichen Tarifkommissionen, in deren Kompetenz eine Zustimmung (oder Ablehnung) in diesem Fall liegt. In den nächsten Tagen wird mit dem Votum der Kirchen gerechnet. Stimmen die kirchlichen Tarifkommissionen zu, dürfte Anfang März beim Arbeitsministerium der Antrag gestellt werden, den ausgehandelten Mindestlohn zum deutschlandweiten Standard zu erklären. Dann geht alles seinen Weg. Stimmen sie nicht zu, sagt der Insider, „dann fährt das Projekt gegen die Wand“. Wenige Monate vor der Bundestagswahl – und nach drei Jahren harter Arbeit im Mammutprojekt der „Konzertierten Aktion Pflege“, durch die diesmal wirklich vieles anders und besser werden sollte: eine kaum vorstellbare Blamage. Nur, weil die Kirchen im Tarifrecht, wie Kritiker sagen, „gerne ihr eigenes Süppchen kochen“.
[Erfahren Sie, wie viel konfessionelle und gemeinnützige Träger augenblicklich in der Altenpflege zahlen – in unserem Artikel Welche Träger richtig gutes Gehalt zahlen]
Autor: Adalbert Zehnder