pflegen-online: Wie häufig kommt es nach Ihren Recherchen vor, dass falsche Demenz- und – speziell auch – Alzheimerdiagnosen gestellt werden?
Cornelia Stolze: Es mag unglaublich klingen, aber solche Fehldiagnosen kommen meinen Recherchen zufolge massenhaft vor, selbst in einem hochentwickelten Gesundheitssystem wie unserem. Das belegt unter anderem eine vor einigen Jahren im American Journal of Geriatric Psychiatry veröffentlichte deutsch-österreichische Studie (Pentzek et al., 1.11.2009). Forscher hatten 3.327 Senioren im Alter zwischen 75 und 89 Jahren über einen Zeitraum von drei Jahren begleitet. Alle Untersuchungspersonen waren Teil der sogenannten AgeCoDe-Kohorte, abgekürzt für „German Study on Ageing, Cognition and Dementia in Primary Care Patients“. Es handelt sich um die weltweit größte vorausschauende Studie der Altenbevölkerung über 75 Jahre zu Früherkennung, Verlauf und Versorgungsaufwand von organisch bedingten unumkehrbaren Demenzen in der hausärztlichen Versorgung. Die Probanden wurden von 2003 bis 2005 als stellvertretende Gruppe von Patienten ohne Demenz in Hausarztpraxen in Bonn, Düsseldorf, Hamburg, Leipzig, Mannheim und München zusammengestellt.
Was haben die Wissenschaftler herausgefunden?
Das Ergebnis der Studie war erschütternd. Es zeigte sich, dass nicht einmal jeder vierte Patient, bei dem der Hausarzt während des Studienzeitraums eine Demenz diagnostizierte, bei genauerer Prüfung tatsächlich dement war. Die meisten Patienten waren einfach nur gebrechlich, schwerhörig, depressiv oder hatten das Gefühl, dass ihr Gedächtnis etwas nachgelassen habe. Noch einmal anders ausgedrückt: Bei mehr als Dreiviertel der Patienten, die dann mit einer solchen Diagnose leben müssen, war das Urteil des Hausarztes falsch.
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Aber wäre das nicht Sache eines Facharztes?
Eigentlich schon. Tatsächlich aber werden die meisten Demenzdiagnosen hierzulande ambulant durch den Hausarzt gestellt. Einer der Forscher, die an der Studie beteiligt waren, hat mir berichtet: Die wenigsten Patienten werden zwecks Überprüfung der Befunde tatsächlich zum Facharzt geschickt. Und selbst dort wird fast kein Patient anhand der strengen klinischen Kriterien untersucht.
Sie sagen damit, dass die Diagnose „Alzheimer“ sogar sehr häufig ohne eine gründliche Untersuchung und Abklärung festgehalten und dokumentiert wird?
Ja, das kommt leider sehr häufig vor.
Wie konnten Sie das feststellen?
Aufgrund meiner Veröffentlichungen bekomme ich immer wieder Anrufe und E-Mails von betroffenen Angehörigen, die mich um Rat bitten, weil meist ihre Mutter, ihr Vater, manchmal der Partner oder die Großmutter, seit einiger Zeit extrem vergesslich und verwirrt ist und nun vom Arzt die Diagnose Demenz oder Alzheimer erhalten hat. Wenn ich dann nachfrage, welche Untersuchungen denn zu dieser Diagnose geführt haben, heißt es oft: „Als wir zum Arzt gegangen sind, hat er einen Fragebogen-Test gemacht und das Ergebnis war so schlecht, dass klar war, dass es sich um Demenz handelt.“
Verstößt das nicht gegen jede Regel ärztlicher Kunst?
Wenn ein Arzt so vorgeht, handelt er in meinen Augen entschieden grob fahrlässig. Auf jeden Fall verstößt er gegen alle Regeln ärztlicher Kunst. Denn eine Demenzdiagnose setzt voraus, dass der betroffene Patient zuvor sehr gründlich und über einen längeren Zeitraum hinweg untersucht worden ist. Grund dafür ist, dass sich Demenz nicht direkt nachweisen lässt. Die Diagnose erfolgt immer nach dem Ausschlussprinzip, das heißt, erst wenn Ärzte bei einem Patienten alle anderen möglichen Ursachen für Vergesslichkeit und Verwirrtheit gründlich geprüft und ausgeschlossen haben, dürfen sie die Diagnose Demenz stellen. Grund dafür ist die Vielzahl möglicher anderer Ursachen für demenzähnliche Symptome, zum Beispiel eine unbehandelte Schilddrüsenstörung, Altershirndruck, massiver psychischer Stress oder die Folgen einer Operation. All diese Ursachen sind behebbar. Deshalb ist es fatal, wenn Ärzte solche Auslöser übersehen.
Welche Konsequenzen hat das für den Patienten?
Wenn ein Patient fälschlicherweise in die Schublade „Alzheimer“ oder „Demenz“ gesteckt wird – wie mir etliche Ärzte bestätigt haben, passiert dies reihenweise –, sind die Folgen natürlich sehr ernst. Zum einen bekommen die Patienten nicht die Behandlung und Hilfe, die sie eigentlich benötigen. Zum anderen erhalten sie Therapien, die ihnen nichts nützen und sogar zusätzlich Schaden anrichten. Ein Beispiel sind Cholinesterase-Hemmer, die erhebliche Nebenwirkungen haben. Tatsächlich ist der Nutzen dieser Medikamente selbst bei einer sicheren Demenzdiagnose mehr als fragwürdig. In Frankreich zum Beispiel dürfen sie deshalb seit einiger Zeit nicht mehr zulasten der Krankenkassen verschrieben werden. Drittens werden viele Betroffene vorzeitig und unnötig zu Pflegebedürftigen gemacht. Ihnen entgehen damit kostbare, gesunde Jahre ihres Lebens – auch mit einer erhöhten Belastung für die Angehörigen.
Gerade Klinikärzte gehen mit der Diagnose Demenz häufig zu leichtfertig um. Muss zum Beispiel ein geistig gesunder älterer Patient aufgrund eines Unfalls oder einer Erkrankung operiert werden, und ist die Behandlung dann nach ein paar Tagen oder Wochen abgeschlossen, werden immer wieder Patienten mit einer Demenzdiagnose entlassen, weil sie noch verwirrt und desorientiert sind.
Ein klarer Fall von Fehldiagnose.
Ja, denn zum einen spricht viel dafür, dass es sich bei den Symptomen um ein postoperatives Delir handelt, also um eine reversible Demenzsymptomatik und nicht um eine Demenz, die per Definition nicht reversibel ist. Zum anderen müssen die Symptome mindestens sechs Monate bestanden haben, bevor ein Arzt die Diagnose stellen darf. So schreibt es die ICD, die internationale Klassifikation der Krankheiten, vor.
Sind Ihnen im Zuge des Neuen Begutachtungs-Assessments (NBA) zur Pflegeeinstufung Unregelmäßigkeiten begegnet? Kam es zum Beispiel zu gezielten Täuschungen der Pflegekassen mit falschen Demenzdiagnosen?
Dazu sind mir keine systematischen Studien bekannt – zumindest keine, die öffentlich zugänglich sind. Und wenn ich immer wieder Hinweise auf bewusste Fehldiagnosen erhalte, so sind solche missbräuchlichen Pflegeeinstufungen schwer zu überprüfen und zu belegen. Sicher ist jedoch, dass es finanzielle Anreize für so etwas gibt. Vor einigen Jahren hat der Chef der Techniker Krankenkasse Jens Christian Baas in einem Interview solche Vorgänge in einem anderen Bereich bestätigt und damit heftige Reaktionen ausgelöst (dpa/kma, 10.10.2016): Baas gab zu, dass die Krankenkassen Patienten auf dem Papier kränker erscheinen lassen als sie sind, damit Ihnen mehr Geld aus dem Gesundheitsfonds zufließt.
Das war ein Skandal. Es wurde die Staatsanwaltschaft eingeschaltet. Das ist im stationären Klinik- und Pflegebetrieb nicht anders, oder? Je kränker und pflegebedürftiger die Patienten klassifiziert und eingestuft werden, umso mehr kann verdient werden. – Sie haben 2017 für Frontal21 (Sendung vom 10.10.2017 im ZDF) umfangreich zu Betrugsmaschen in Pflegeheimen recherchiert und Kontakte zu Betroffenen hergestellt. Was haben Sie damals herausgefunden?
Wir haben mehrere Fälle von Fehldiagnosen vorgestellt, unter anderem einen Fall, in dem ein Pflegeheim nachweislich darauf hingewirkt hat, einen älteren Bewohner für dement zu erklären. Die Absicht dahinter war tatsächlich, die Pflegeversicherung mit einer höheren Pflegeeinstufung um dauerhaft höhere Beiträge zu prellen – übrigens ohne, dass dieser ältere Herr dann von dem Heim mehr Pflegeleistungen erhalten hätte. Es gibt solche finanziellen Fehlanreize auch für Krankenhäuser.
Laut einer Pressemitteilung des Bayrischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege vom 11. Oktober 2020 (PM 245/GP) wollte die ehemalige Gesundheitsministerin von Bayern Melanie Huml das „DECIDE-Projekt“ unter Federführung der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Janine Diehl-Schmid vom Klinikum Rechts der Isar zur „Reduktion sedierender Psychopharmaka bei Heimbewohnern und Mietern in ambulant betreuten Wohngemeinschaften mit fortgeschrittener Demenz“ mit 260.000 Euro fördern. Damit wollte Huml für einen verantwortungsbewussten Umgang mit dämpfenden Medikamenten in der Altenhilfe werben. Die Ergebnisse sollen den Einrichtungen zufließen. Könnte das die erhofften Veränderungen bringen?
Ich halte diese „Studie“ für eine teure PR-Aktion – ein Feigenblatt. Man tut so, als würde man etwas Gutes tun. In Wirklichkeit ist das reine Geldverschwendung, weil es kaum Neues bringen wird und die Wurzel des Übels nicht behoben wird. Die zu erwartenden Erkenntnisse gibt es doch längst.
Worin sehen Sie, neben den Fehlanreizen, die Wurzel der Misere?
Eine Hauptursache der Misere ist der Mangel an Pflegepersonal insgesamt sowie der Mangel an gut ausgebildeten Pflegefachkräften in den Heimen, bedingt durch die zunehmende Privatisierung und das Renditestreben der Investoren. Um den Ertrag zu steigern, sparen die meisten von ihnen massiv am Personal. Die Folge davon ist, dass viel zu wenig Personal für viel zu viele Bewohner zuständig ist. Kein Wunder, dass viele Bewohner dann sedierende Medikamente bekommen, damit das Pflegepersonal die Schichten einigermaßen bewältigen kann.
In der vollstationären Pflege machte noch bis 2016 eine geringere Einstufung eines Pflegebedürftigen durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) von Pflegestufe 3 auf Pflegestufe 2 pro Monat 314 Euro aus – ein Verlust von 3.768 Euro für das Haus allein durch die Aktivierung einer Person. Mit der deutschen Pflegereform gibt es seit 2017 fünf Pflegegrade, aber kein Mehr an finanziellen Anreizen für eine aktivierende Pflege.
Zitat: Armin Rieger, ehemaliger Heimleiter in Augsburg, in einem Interview-Beitrag von Melanie M. Klimmer für alzheimer.ch (27.06.2017)
Daher ist dieses Problem auch nicht mit einer solchen Aktion zu beheben. Da müsste die Bundesregierung aktiv werden, das gesamte Pflegesystem komplett neugestalten und andere Anreize schaffen. Aber das wird nach meiner Wahrnehmung überhaupt nicht angestrebt. Eine weitere Ursache ist das Vergütungssystem der Ärzte: Ausführliche Gespräche mit Patienten, in denen die Ursachen für ihre Beschwerden geklärt und Lebensumstände eruiert werden könnten, werden miserabel bezahlt. So liegt es nahe, ohne größeren Aufwand schnell mal ein Rezept zur medikamentösen „Ruhigstellung“ zu schreiben. Das wird in jedem Quartal gut honoriert, ohne dass der Arzt größeren Aufwand damit hätte. Zum Teil stellen Ärzte sogar Rezepte auf Wunsch von Heim-Mitarbeitern aus, ohne den Patienten überhaupt gesehen zu haben.
Was können Pflegefachkräfte Ihrer Ansicht nach tun, wenn sie solche missbräuchlichen Diagnosen und Fehldiagnosen bemerken?
Für Pflegefachkräfte ist das eine schwierige Situation: Sie selbst können keine Diagnosen stellen. Das ist Sache des Arztes. Es gibt Mediziner, die für Hinweise offen sind und diesen nachgehen. Meiner Erfahrung nach lassen sie sich aber von Nicht-Medizinern nicht gerne etwas sagen. Für manche grenzt es regelrecht an Majestätsbeleidigung, wenn man ihre Diagnosen und Therapieempfehlungen auch nur ansatzweise infrage stellt. Daher ist es vermutlich erfolgsversprechender, wenn Pflegefachkräfte mit den Angehörigen des Patienten sprechen und diesen ihre Beobachtungen und Überlegungen mitteilen. Gerade wenn die Angehörigen die Vorsorgebevollmächtigten sind …
Es muss sich dabei um eine Gesundheitsvollmacht für medizinische und gesundheitliche Belange handeln …
… ja, dann haben sie ein Anrecht darauf, den behandelnden Ärzten direkt Fragen zu stellen, um weitere Untersuchungen zu bitten und gegebenenfalls Entscheidungen zu treffen. Wenn der Arzt darauf eingeht, ist schon viel gewonnen. Patienten und Angehörige tun gut daran, ihre Ärzte aktiv bei der Suche nach den wahren Ursachen für Verwirrtheit und Vergesslichkeit zu unterstützen. Ist ein Arzt dazu nicht bereit, sollten sich Patient und Angehörigen aus meiner Sicht dringend einen anderen Arzt suchen.
Interview: Melanie M. Klimmer
Zur Person
Cornelia Stolze, geboren 1966, ist Diplombiologin und Medizinjournalistin unter anderem für Die Zeit, Spiegelonline, Stern, die Wirtschaftswoche oder TV-Redaktionen, wie Report Mainz und Frontal21. Mit Ihrem Sachbuch „Vergiss Alzheimer!“ deckte die Autorin 2011 auf, wie namhafte Forscher, Mediziner und die Industrie Patienten und die Öffentlichkeit mit Fehlinformationen zu Demenz täuschen, deren Ängste schüren und weltweit Geschäfte machen. Mehr dazu auch in ihrem jüngsten Buch „Verdacht Demenz“ (Herder 2016).