"Die Analyse und Nutzung großer Datenmengen bietet Chancen für individualisierte Pflege, mehr Pflegequalität und eine intensivierte Professionalisierung der Pflegeberufe", ist sich Uwe Borchers, Referent des Deutschen Pflegetages, sicher. Der Geschäftsführer des Zentrums für Innovation in der Gesundheitswirtschaft (ZIG) in Bielefeld erzählt im Interview mit pflegen-online, wie Big Data und technische Lösungen die Pflegebranche verändern werden.
pflegen-online: Herr Borchers, die Vorstellung von autonom fahrenden Krankenbetten ist faszinierend und erschreckend zugleich. Ist das Zukunftsmusik?
Uwe Borchers: Nein, keinesfalls. Fahrerlose Transportsysteme werden heute sowohl in Krankenhäusern als auch in Pflegeheimen eingesetzt. Und in der Industrie gibt es solche Systeme bereits seit Jahren. Im Kern geht es ja darum, die logistischen Aufgaben einfacher zu machen, zum Beispiel mit automatischen Wäschetransporten oder mit dem fahrerlosen Transport von Speisewagen auf den Stationen. Alles, was mit Holen und Bringen zu tun hat, birgt das Potenzial für autonom fahrende Systeme. Aber die Vorstellung, dass wir als Patientin oder Patient in autonom fahrenden Betten liegen, die ist für die meisten von uns sicher befremdlich, und die ist sicher auch mit Ängsten verbunden. Auch deshalb finden wir fahrerlose Transportsysteme bislang eher in der Materiallogistik, hinter den Kulissen bei patientenfernen Aufgaben.
Die aktuelle Diskussion um den Fachkräftemangel deutet an, dass wir künftig sowohl im Krankenhaus als auch im Pflegeheim verstärkt über den Einsatz technischer Systeme sprechen werden. Damit ist die Erwartung verbunden, dass die Technik den Pflegealltag unterstützen und die Arbeit für die ohnehin überlasteten Pflegekräfte erleichtern soll.
[embed]https://deutscher-pflegetag.de[/embed]
Was ist eigentlich e-Pflege? Zählt auch die Pflegebrille dazu, die pflegerische Arbeitsprozesse durch das Abrufen visueller Patientendaten erleichtern soll, damit die Pflegenden die Hände frei haben und nicht an den Monitor gebunden sind?
Ja, die Datenbrille für die Pflege ist ein schönes Beispiel. Dabei geht es um ein Forschungsprojekt, das vom BMBF gefördert wird, und in dem unter anderem die Ruhr-Uni Bochum an der Augmented-Reality in der Pflege forscht. In der ambulanten Intensivpflege könnte man damit etwa Patientendaten abrufen und auf der Brille sichtbar machen.
Die Idee ist, dass die Pflegenden dann die Hände frei haben für die Arbeit mit den Patientinnen und Patienten. Die digitale Pflegebrille soll auch Beatmungsdaten, Pflegepläne oder Anleitungen für medizintechnische Geräte abrufen können. Das soll dabei helfen, die zeit- und kostenintensive Intensivpflegearbeit zu erleichtern und die Pflegequalität zu verbessern. Sogar die Angehörigen könnten die Brille bei der häuslichen Pflege verwenden.
Worum geht es genau bei der e-Pflege?
Bei e-Pflege geht es generell um neue Ideen zur digitalen Unterstützung der Pflegeprozesse. Dafür gibt es immer mehr Apps, und der Markt ist schwer zu überschauen, wenn man nach qualitätsgesicherten Anwendungen sucht. Ein interessantes Beispiel für die professionelle Pflege ist eine App, mit der man den Dienstplan auf dem Smartphone einsehen und Wunschzeiten eintragen kann, die dann auch berücksichtigt werden. Damit wird Selbsteinplanung möglich, und es kann eine neue Art der Personalplanung im Krankenhaus entstehen, inclusive digitalem Jahresplan und intelligentem Kapazitätsmanagement.
Digitale Lösungen für die Pflege entstehen derzeit vor allem im Bereich der Dokumentation, der Kommunikation mit Tele-Care, der technischen Assistenzsysteme zum Beispiel bei Hebe- und Tragehilfen oder der autonomen Systeme bis hin zu Roboter-gestützten Systemen.
Welche aktuelle technische Innovation in der Pflege fasziniert Sie persönlich besonders? Und wird die Ihrer Meinung nach die Pflegewelt völlig revolutionieren?
Die Frage ist: Wie kann man heute schon digitale Technik ganz praktisch nutzen, um den Pflegealltag zu unterstützen oder die Pflegequalität zu verbessern? Hier geht es nicht um Zukunftsvisionen sondern um möglichst großen Nutzen im Pflegealltag. Dazu gibt es ein ganz aktuelles Beispiel aus dem ostwestfälischen Verl. Dort hat eine Firma ein sogenanntes Care-Control-System für ein Pflegebett entwickelt. Die Technologie verknüpft sensorgestütztes Monitoring, programmierbare Bettensteuerung und drahtlose Benachrichtigungen auf dem Smartphone der Pflegekraft.
Im Pflegealltag werden Pflegekräfte beispielsweise per App alarmiert, wenn ein sturzgefährdeter Bewohner im Begriff ist, das Bett zu verlassen. Mit grafisch dargestellten Sensordaten kann die Pflegekraft auf dem Smartphone erkennen, wann ein Bewohner zur Dekubitusprophylaxe umgelagert werden muss. Die Daten werden direkt in die Patientendokumentation übernommen. Die Technik kann viele Kontrollgänge sparen und Dokumentationsaufwand reduzieren, und damit mehr Zeit für die Pflege am Patienten schaffen. Solche Lösungen versprechen mehr Nutzerorientierung und mehr Pflegequalität. Entscheidend wird sein, ob und wie sich die professionelle Pflege an der Gestaltung der neuen digitalen Pflegewelt beteiligt.
Und Big Data? Also das Sammeln von großen Datenmengen, warum ist das für die Pflege wichtig. Wer profitiert davon?
Bei der Arzneimitteldosierung oder bei der Therapie seltener Erkrankungen ist schnell plausibel, dass der Big Data Ansatz Vorteile für die Betroffenen bringt. In der Medizin kann die Auswertung großer Datenmengen Diagnosen verbessern oder Fehl-, Unter- und Überversorgung vermeiden helfen. Aber auch die Pflege selbst wird profitieren können, wenn die Profession sich den Big Data Ansatz in Forschung und Praxis stärker zu eigen macht. Die Analyse und Nutzung großer Datenmengen bietet Chancen für individualisierte Pflege, mehr Pflegequalität und eine intensivierte Professionalisierung der Pflegeberufe. Es ist absehbar, dass mit Big Data neue Berufsfelder in der Versorgungsforschung, in der Pflegewissenschaft und in akademischen Praxisfeldern entstehen werden. Die Pflegeinformatik oder Zukunftsberufe, die vielleicht Pflege-Geograf oder Care-Data-Scientist heißen, werden künftig an Bedeutung gewinnen.
Hand auf Herz: Was sagen Pflegende, Patienten und Pflegebedürftige zur e-Pflege?
Wir sollten Technik, professionelle Pflege, persönliche Zuwendung und Wertschätzung nicht künstlich voneinander trennen. Wir tun gut daran, Pflege als ganzheitliches Handeln zu verstehen. In diesem Sinne kann digitale Technik auf vielfache Weise sinnvolle Unterstützung sein, und mit dieser Entwicklung stehen wir sicher erst mitten im Anfang. Es zeigt sich aber jetzt schon, dass wir die gesellschaftliche Debatte darüber, welche Art der Pflege wir uns für die Zukunft wünschen, intensiver führen müssen. „High Care“ ist dann vielleicht die Qualitäts-Vision einer gelungenen Mischung aus High-Tech und menschlicher Zuwendung.
Uwe Borchers, Geschäftsführer des Zentrums für Innovation in der Gesundheitswirtschaft (ZIG) in Bielefeld und Mitglied des Programmbeirates, ist Referent des Deutschen Pflegetages in Berlin. Sein Thema: Technikeinsatz in der Pflege: e-Pflege, Big Data und Ethik
IT in der Pflege: Neue Trends in und für die Praxis heißt es am Sonnabend, 17. März, von 9 bis 10.30 Uhr in Halle 4.
Interview: Kerstin Werner