Wegen seiner Alkoholexzesse am Vortag war Mario G. müde und hatte keine Lust sich in der Nachtschicht um die Patienten zu kümmern. So spritzte der heute 26-jährige mehreren Patienten auf der neurochirurgischen Station im „Klinikum rechts der Isar“ erst starke Beruhigungsmittel und anschließend (zum Morgen hin) Adrenalin. Zwei ältere Patienten überlebten diese Behandlung nicht. Jetzt ist er wegen Doppelmords und in drei Fällen wegen versuchten Mords angeklagt.
Es fiel auf, dass er nach Alkohol roch und Patienten vernachlässigte
Wie die Süddeutsche Zeitung berichtet, hat sich im Prozess herausgestellt, dass seinen Kollegen durchaus auffiel, dass er nach Alkohol roch, die Patienten vernachlässigte, log und immer wieder Medikamente bestellte, die nicht gebraucht wurden. Im Juli 2020 trat er seine Stelle an, im August begann er nach eigenen Aussagen mit seinen Taten, im November warnte endlich eine Krankenschwester die Stationsleitung, sie müsse auf Mario G. aufpassen. Erst als bei einem kollabierenden Patienten in Blutproben Medikamentenrückstände gefunden wurden und ein Assistenzarzt Parallelen zu anderen Patienten mit ähnlichen Symptomen sah, kamen Zweifel auf. Man verglich die fraglichen Fälle mit Mario G.s Dienstzeiten. Seit 9. November 2020 sitzt der junge Pfleger nun in Haft.
Doch wie konnte es so weit kommen? Warum schlugen Kollegen und Vorgesetzte nicht früher Alarm? Diplom-Pflegewirtin Petra Blumenberg vom Aktionsbündnis Patientensicherheit fordert ein Umdenken in den Einrichtungen und mehr Sorgfalt bei der Personalauswahl.
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pflegen-online: Frau Blumenberg, was sagen Sie zu dem Fall?
Petra Blumenberg: Ich bin fassungslos, dass es immer wieder vorkommt, dass Verdachtsmomente für nicht adäquate Arbeitsweisen über einen langen Zeitraum nicht geäußert werden. In der betroffenen Einrichtung muss man diesen Vorfall dringend aufarbeiten und Abläufe verbessern.
Laut verschiedener Quellen soll Mario G. Leiharbeiter gewesen sein.
Das kann durchaus zum Problem beigetragen haben. Wir stellen in unseren Beobachtungen immer wieder fest, dass nur gute Teams gute Arbeit machen. Dazu gehören, gerade im sensiblen Bereich der Gesundheitsberufe, Kontinuität und Verlässlichkeit. Jemand, der immer nur für wenige Monate im Unternehmen ist, ist kein berechenbarer Bestandteil des Teams. Der macht in der Regel Dienst nach Vorschrift, hat keine Veranlassung sich mit den individuellen Regeln und Gegebenheiten vertraut zu machen und kostet die Einrichtung auch noch das Doppelte seiner Kollegen.
Aber muss nicht auch ein Leiharbeiter entsprechende Qualifikationen vorweisen?
Natürlich. An der Basis muss man sich darauf verlassen können, dass nur Menschen eingestellt werden, die wirklich geeignet sind. Einrichtungen müssten Zeugnisse und Zertifikate lesen, persönliche Einstellungsgespräche führen. Und sich nicht einfach darauf verlassen, dass die Zeitarbeitsfirma das schon alles geprüft hat. Mario G. hat ja wohl davor schon fast zwanzig Mal die Arbeitsstelle gewechselt, war dort schon häufig auffällig. Bei vorgehender sorgfältiger Kontrolle wäre das doch ans Licht gekommen und die Todesfälle somit vermutlich vermeidbar gewesen.
Steckt hier mal wieder der Fachkräftemangel dahinter?
Ja natürlich. Mittlerweile sind wir durch den Personalmangel erpressbar. Ketzerisch gesagt, nehmen wir jeden, der nicht bei Drei auf dem Baum ist. Da werden nur noch Köpfe gezählt und es geht nicht danach, wie qualifiziert oder motiviert jemand ist.
In dem vorliegenden Fall hat mich zum Beispiel stutzig gemacht, dass hier ein Altenpfleger, mit noch dazu mäßigem Abschluss, in einem hochrelevanten klinischen Bereich wie einer neurochirurgischen Station eingesetzt wurde.
Vor Gericht sagten einige Kollegen aus, dass ihnen Mario G.s Verhalten schon auffällig vorkam.
Aus meiner Sicht darf es jetzt auf keinen Fall zu Schuldzuweisungen gegenüber den Pflegefachkräften kommen. Diese leiden vermutlich bereits selbst genug unter den Ereignissen und hätten vielmehr zeitnah psychosoziale Unterstützung gebraucht. Wir sprechen hier von „second victims“. Die machen ihren Job vermutlich richtig toll und haben wohl sogar noch das ausgebessert, was Mario G. nicht oder falsch gemacht hat.
Aber man muss sich im Nachhinein fragen: Warum haben die Kollegen ihre Beobachtungen nicht vom ersten Moment an laut ausgesprochen, warum haben sie das für sich behalten? Dafür hat die Gesamtverantwortung einer Organisation Sorge zu tragen.
Was wäre das richtige Vorgehen gewesen?
Beim ersten Verdachtsmoment gegenüber dem neuen Kollegen, auch wenn es nur ein Bauchgefühl ist, zur Stationsleitung zu gehen und mit ihr darüber sprechen. Und wenn diese nicht entsprechend reagiert, auch eine oder zwei Stufen höher zu gehen. Das setzt aber natürlich ein gewisses Vertrauensverhältnis voraus und da scheint oft das Problem zu liegen.
Inwiefern?
Wir sagen immer: „Patientensicherheit ist auch Mitarbeitersicherheit“. Das bedeutet, als Mitarbeiter muss ich mich in meiner Organisation wertgeschätzt und geborgen fühlen. Das beinhaltet auch die Möglichkeit, dass ich verdächtige Beobachtungen äußern darf, Stichwort: Speak up. Für die Qualitätssicherung ist es ganz wichtig, dass man über Fehler sprechen kann. Auch über eigene und auch über die von Vorgesetzten. Oft gibt es ja auch Gründe, warum etwas schiefgeht. Beispielsweise sehen sich bei Medikamentenverwechslungen vielleicht die Verpackungen zu ähnlich. Dem kann man nachgehen und bestenfalls die Ursache beheben.
Warum passiert das nicht immer?
Weil die Pflegekräfte wahrscheinlich häufiger die Erfahrung gemacht haben, dass Vorgesetzte ihr Anliegen nicht ernst nehmen. Im schlimmsten Fall kommt dann noch ein Kommentar, dass man Kollegen nicht anschwärzt oder dass man eben wegen des Fachkräftemangels nehmen muss, was kommt.
Und dann? Einfach laufen lassen?
Nein, wenn jemand nicht direkt mit seinem Vorgesetzten sprechen möchte, kann auch eine Art internes „Whistleblower“-Meldesystem etabliert werden. Diese sind vergleichbar mit den in jeder Einrichtung vorgeschriebenen „Critical incident reporting systems“ (Berichts- und Lernsystemen, Anm. d. Red.). Dort kann man anonym verdächtige Beobachtungen melden. Inwiefern diese dann nachverfolgt werden, liegt natürlich immer an der jeweiligen Organisation, was uns wieder zur Organisationskultur zurückführt. Manchmal wissen nicht mal alle Mitarbeiter von dieser Möglichkeit.
Was passiert mit dem gemeldeten Kollegen?
Bei so schweren Vergehen, wie sie bei Mario G. beobachtet wurden, kann auch ein Festangestellter sofort entlassen werden. Menschen mit einem Alkohol- und Drogenproblem dürfen nicht in der Pflege arbeiten. Bei ihm kam ja auch noch eine erschreckende Empathielosigkeit dazu. Der Personalmangel in der Pflege darf nicht dazu führen, dass die Voraussetzungen heruntergeschraubt werden. Wir brauchen in der Pflege verantwortungsbewusste, hoch qualifizierte Kollegen mit dem entsprechen Maß an Empathie für diesen Beruf. Und davon haben wir zum Glück viele, die wir aber nicht werden halten können, wenn wir ihnen Kollegen wie Mario G. an die Seite stellen.
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Wie sollte die betroffene Klinik jetzt vorgehen?
Der Vorfall liegt ja nun, auch wenn er jetzt erst vor Gericht verhandelt wird, bereits mehr als drei Jahre zurück. Daher hoffe ich sehr, dass man bereits wichtige Maßnahmen ergriffen hat. Wenn so etwas passiert, ist es nicht das Unvermögen einer einzelnen Person, sondern ein organisationales Versagen. Wünschenswert wäre eine gründliche Aufarbeitung im Sinne einer systematischen Analyse gewesen, wo genau es zu welchen Sicherheitslücken gekommen ist. In dem Fall könnten das beispielsweise der Einstellungsprozess über ein Subunternehmen ohne weitere Prüfung der Qualifikation und des Lebenslaufs sein oder das Bestellen von nicht benötigten Medikamenten.
Allgemein braucht es in vielen Bereichen der Gesundheitseinrichtungen ein kulturelles Umdenken, um solche Geschehnisse zu verhindern. Die innerbetrieblichen Kommunikationsstrukturen und die Unterstützung von guter Teamarbeit verdienen mehr Aufmerksamkeit. Die Fachkräfte müssen wichtige Beobachtungen melden können, ohne die Befürchtung zu haben, jemanden damit bloßzustellen, Arbeitsbeziehungen zu gefährden oder Patienten und Angehörige zu verunsichern.
Über das Aktionsbündnis Patientensicherheit
Im Aktionsbündnis Patientensicherheit haben sich 2005 Vertreter der Gesundheitsberufe, Verbände und Patientenorganisationen zusammengeschlossen. Sie setzen sich mit Projekten, Handlungsempfehlungen, Checklisten, Patienteninformationen und vielem mehr für mehr Patientensicherheit in Deutschland ein.
Interview: Melanie Thalheim
Statement des Klinikums rechts der Isar
Wir haben das Klinikum rechts der Isar gefragt, ob es seit dem Fall Mario G. Abläufe, Kontrollen etc. verändert oder integriert hat. Die Sprecherin Dr. Barbara Nazarewska hat auf die Pressemitteilung des Klinikums verwiesen:
Das Universitätsklinikum rechts der Isar hat von Beginn an schnell reagiert und alle Maßnahmen zur sofortigen, transparenten und lückenlosen Aufklärung der Vorgänge unterstützt. Dabei haben wir stets aufs Engste mit der Staatsanwaltschaft kooperiert. Wir haben selbst Anzeige gegen den Angeklagten gestellt. Auch dank aufmerksamer Ärzt*innen und der anschließenden engen Kooperation unseres Klinikums mit den Ermittlungsbehörden konnte dieser Fall vor Gericht gebracht werden. Wir haben am Universitätsklinikum rechts der Isar eine Vielzahl von Mechanismen zur Patienten- und Mitarbeitendensicherheit. Seit Bekanntwerden des Vorfalls haben wir unsere internen Sicherheitsregularien und Kontrollmechanismen noch einmal verschärft. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass wir uns hierzu während eines laufenden Verfahrens nicht näher äußern können.