Die Hilflosigkeit ist oft groß, wenn ein Mensch mit Demenz herausfordernde Verhaltensweisen zeigt – wenn er etwa agitiert oder aggressiv ist. „Die Betroffenen mit Psychopharmaka einfach ruhigzustellen, kann aber nicht der richtige Weg sein“, sagt Imane Henni-Rached, Pflegeexpertin der Rheinhessen-Fachklinik Alzey, einem psychiatrischen Landeskrankenhaus. „Wenn aber die Rahmenbedingungen schlecht sind und Personal, Zeit oder auch Erfahrung fehlen, wird es in Pflegeeinrichtungen und im häuslichen Bereich vielfach dennoch praktiziert.“
Warum Neuroleptika, Antidepressiva und Benzodiazepine schaden
Welche fatalen Folgen das großzügige Verabreichen von Psychopharmaka für die Erkrankten hat, legt der Demenzreport 2020 (erstellt von der Universität Bremen mit Unterstützung der Krankenkasse hkk) dar: Insbesondere Neuroleptika, aber auch Antidepressiva und Benzodiazepine würden Menschen mit Demenz nachweislich schaden, so Prof. Dr. Gerd Glaeske. Stark beruhigende Neuroleptika können bei ihnen unter anderem zu akuten Herzerkrankungen, Lungenentzündungen und Schlaganfällen führen – und damit das Sterberisiko deutlich erhöhen.
Hinter Aggressionen stecken oft unbefriedigte Bedürfnisse
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Das Projekt NeeDz der Rheinhessen-Fachklinik Alzey stemmt sich gegen die gängige Praxis, bei herausforderndem Verhalten gleich Psychopharmaka zu zücken. Es geht davon aus, dass sich hinter aggressivem oder agitiertem Verhalten unbefriedigte Bedürfnisse („Needs“) der Menschen mit Demenz („Dz“) verbergen. „Wenn ein Patient zu uns kommt und der NeeDz-Prozess für ihn geeignet ist, setzen wir Psychopharmaka gezielt ab – insbesondere jene, die zuvor schon gegeben wurden, um herausfordernde Verhaltensweisen zu reduzieren. Denn nur so können wir erkennen, welches Bedürfnis das Verhalten auslöst – und ob es nicht erst durch die Medikamente bedingt ist.“
Die verstehende Diagnostik fragt: Warum rennt der Patient in alle Zimmer?
Um zugrunde liegende Bedürfnisse deuten zu können, setzt das gerontopsychiatrische Team auf verstehende Diagnostik. „Wenn wir beispielsweise einen Patienten haben, der unruhig und agitiert ist, der in fremde Zimmer läuft und sich kaum besänftigen lässt, ziehen wir daraus nicht den Schluss: Er braucht jetzt ein sedierendes Medikament. Stattdessen beginnt genau hier unsere Suche nach dem Bedürfnis, das hinter dem Verhalten steht und das der Mensch aufgrund seiner Demenz nicht klar äußern kann“, sagt Henni-Rached.
Die 5 Schritte der verstehenden Diagnostik
Die verstehende Diagnostik ist ein strukturierter Prozess. In der Gerontopsychiatrie in Alzey (und sicherlich auch anderswo) findet er immer statt, wenn ein Patient sich herausfordernd verhält. So gehen das Ärzte- und Pflegeteam bei der verstehenden Diagnostik vor:
- Im ersten Schritt werden mögliche körperliche Gründe abgeklärt: Könnten zum Beispiel Hunger, Durst, Urindrang, Schmerzen oder eine Infektion das Verhalten auslösen?
- Sollte dies nicht der Fall sein (siehe erster Schritt), findet im zweiten Schritt ein affektives Assessment statt: Liegt Umgebungsstress oder eine Reizüberflutung vor – ist es für den Patienten zum Beispiel zu hell oder zu dunkel, zu warm oder zu kalt, zu hell oder zu still, befinden sich Menschen im Raum, mit denen er nicht zurechtkommt?
- Wenn ein Handlungsangebot hier nicht hilft (siehe zweiter Schritt), wird im dritten Schritt ein nicht-medikamentöses, psychosoziales Angebot gemacht, etwa eine Aroma- oder Musiktherapie, ein Spaziergang, eine Handmassage und andere, möglichst an der Biografie orientierte Einzelaktivierungen.
- Besteht das Verhalten trotz nicht-medikamentöser, psychosozialer Angebote fort, wird im vierten Schritt versuchsweise ein Schmerzmittel verabreicht, da Menschen mit Demenz oftmals auch Schmerzen nicht mehr adäquat äußern können.
- Erst im fünften Schritt, nach sieben Tagen verstehender Diagnostik und einer Re-Evaluation, beginnt das Team möglicherweise mit einer medikamentösen Therapie – aber nur, wenn sich die Situation auch nach psychosozialer Behandlung nicht gebessert hat.
Charité hat diese Serial Trial Intervention für Deutschland angepasst
„Dieses evidenzbasierte Verfahren heißt Serial Trial Intervention (STI) und stammt ursprünglich aus dem angloamerikanischen Raum. Die Charité hat es in einem Leuchtturmprojekt auf deutsche Bedingungen hin angepasst und evaluiert“, so Henni Rached. „Klar ist: Das Psychopharmakon muss immer das letzte Mittel der Wahl sein – und ganz häufig ist es tatsächlich überflüssig. Denn jemand, der sich bereits in einer schweren Demenz befindet und ein agitiertes Verhalten zeigt, kommt doch durch ein sedierendes Medikament gar nicht zur Ruhe. Es kann sein Bedürfnis – beispielsweise, dass er nach Hause möchte – nicht stillen. Stattdessen wird er nur müde und sturzgefährdet.“
Henni-Rached: Ich unterstütze gern vor Ort!
Henni Rached entlässt jeden Patienten mit einer Handlungsempfehlung, die alles enthält, was ihm gut geholfen hat. Darüber hinaus aber ruft sie zur Kooperation auch in der Fläche auf: „Wir brauchen mehr Heime, die Menschen mit Demenz bedürfnisorientierte Pflege bieten. Um das zu erreichen, bin ich sofort bereit, allen interessierten Einrichtungen unsere Herangehensweise persönlich vorzustellen. Auf Wunsch würde ich auch Patienten, die wir hier betreut haben, in ein Heim zurückbegleiten; innerhalb der Eingewöhnungszeit könnte ich zudem regelmäßige Besuche machen, um die Pflegekräfte vor Ort mit gezielten Tipps zu unterstützen. Für Angehörige bieten wir bereits eine Sprechstunde an, aber auch ihnen würden wir gern noch stärker bei der Nachsorge helfen.“
Pflegeeinrichtungen, die mehr über den NeeDz-Prozess erfahren möchten oder an einer Zusammenarbeit interessiert sind, können sich direkt an Henni-Rached wenden:
Imane Henni-Rached Telefon: 06731 501830 E-Mail: i.henni-rached@rfk.landeskrankenhaus.de
Autorin: lin
Über Imane Henni-Rached
Die Altenpflegerin ist Pflegeexpertin (M.Sc. Advanced Practice Nursing) und Fachpflegerin für palliative Versorgung. Sie arbeitet in der Gerontopsychiatrie der Rheinhessen-Fachklinik Alzey . Der dort implementierte NeeDz-Prozess eignet sich für Menschen mit Demenz (gemäß ICD F00–F03 und G30), die herausforderndes Verhalten zeigen.