pflegen-online: Herr Daßler, wie kam die auf geriatrische Reha spezialisierte Klinik Wartenberg zum Thema Chronobiologie?
Norman Daßler: Seit mehr als zehn Jahren investieren wir kontinuierlich in unser Betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM) und waren 2016 das erste Unternehmen in Bayern, das von der AOK Bayern zertifiziert wurde. Dennoch haben wir vor vier Jahren festgestellt, dass es nach wie vor Handlungsfelder gibt, in denen es noch nicht optimal läuft. Bei Mitarbeiterbefragungen, Qualitätsaudits und Arbeitssituationsanalysen tauchte immer wieder das Thema Schlaf auf; dabei ging es besonders um Schlafstörungen, Herz-Kreislauf-Beschwerden und auch psychosomatische Beschwerden. Da war es fast wie eine Fügung, dass wir Ende 2018 auf einer AOK-Veranstaltung Michael Wieden begegneten. Er beschäftigt sich seit mehr als 20 Jahren mit den Themen Chronobiologie, Führung und neue Arbeitsformen und ist Experte für Chronobiologie im BGM – wir waren von seinen Ideen sofort begeistert.
Was dazu führte, dass Sie die Studie zur chronotyp-orientierten Personaleinsatzplanung (COPEP) initiiert haben?
Unser Geschäftsführer Dr. Constantin von Stechow, unsere Fachkraft für Arbeitssicherheit Christian Walther und ich – damals noch als verantwortlicher Pflegedienstleiter – waren überzeugt, dass dieses Thema eine Lösung für unser Problem sein kann. Dabei wollten wir von Beginn an einen wissenschaftlichen Ansatz verfolgen. Entsprechend haben wir unsere Partner ausgewählt: als Studienleiter Prof. Dr. Thomas Kantermann von der FOM Hochschule für Oekonomie & Management, Prof. Dr. Achim Kramer von der Charité, Michael Wieden als Berater, die Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege sowie die AOK Bayern.
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Nun mussten Sie zunächst die Chronotypen der Mitarbeitenden ermitteln. Wie lief das ab – und wie hoch war das Interesse der Belegschaft, insbesondere der Pflegekräfte?
Nach einem Dreivierteljahr Planung und Vorbereitung haben wir im September 2019 eine Gesundheitswoche veranstaltet und unserer Belegschaft zur Typisierung einen Bluttest angeboten. Der Test – entwickelt von der Charité und inzwischen patentiert – liefert ein objektives, wissenschaftliches Ergebnis. 132 Mitarbeitende haben sich bei dieser Aktion chronotypisieren lassen und zusätzlich einen Fragebogen ausgefüllt. Insgesamt nahmen 50 Prozent unserer Mitarbeitenden aus dem Schichtdienst teil, dazu zählten 40 Prozent unserer Pflegekräfte.
Gab es überraschende Ergebnisse bei der Chronotyp-Bestimmung? Man würde doch denken, dass jeder selbst weiß, welchem Chronotyp sie oder er entspricht …
Was wir gesehen haben, spiegelte größtenteils die Verteilung, die es insgesamt in der Bevölkerung gibt. Das heißt, wir haben ein paar ausgeprägte Früh- und Spättypen, die übrigen Testergebnisse liegen eher im Normalbereich. Doch es gibt auch diejenigen, die extrem gegen ihre innere Uhr arbeiten – und es selbst vorher gar nicht wussten.
Geben Sie uns ein Beispiel?
Wir haben eine Dauernachtwache, die sagt, diese Schicht entspräche ihrem Rhythmus und sie mache die Arbeit gern – seit 15 Jahren. Doch chronobiologisch ist sie tatsächlich genau der umgekehrte Typ, gemäß ihrer inneren Uhr sollte sie eigentlich ab 10 oder 11 Uhr bis in den frühen Abend hinein arbeiten. Natürlich konditioniert sich der Körper nach einer gewissen Zeit aber auch und gewöhnt sich an solche Situationen.
Bei einer Stationsleitung hat sich gezeigt, dass sie ab 4.30 Uhr fit ist. Idealerweise würde sie um 3.30 Uhr aufstehen und eine Stunde später mit der Schicht beginnen, so das Ergebnis. Wir haben ihr angeboten, einen zusätzlichen Dienst einzuführen, um zu sehen, was das bringt. Eine Kollegin verkürzte entsprechend ihren Nachtdienst auf 4.30 Uhr, sodass beide profitierten. Das haben wir über die Testphase, ein Vierteljahr lang, durchgezogen. Und tatsächlich kam das unserer Stationsleitung von der Arbeitszeit her extrem entgegen.
Das war ein Ziel der Studie: herauszufinden, ob die Mitarbeitenden im Arbeitsalltag tatsächlich ihrem Chronotyp entsprechend eingesetzt werden können. Hat das innerhalb der Pflege auch im größeren Rahmen funktioniert?
Die konkrete Arbeitszeitumstellung lief zwischen März und Juli 2020 – traf sich also genau mit dem Beginn der Corona-Pandemie. Das war schon ein Einschlag, dennoch haben wir damals weitergemacht und die Arbeitszeiten so weit wie möglich angepasst. Heute können wir sagen, dass ein Einsatz nach Chronotyp in der Pflege durchaus funktioniert. Bei denjenigen, die an der Studie teilgenommen haben, hat sich der Dienstbeginn im Mittel um 20 Minuten oder eine halbe Stunde verschoben. Und diese Flexibilisierung haben wir dauerhaft eingerichtet.
Sie haben die Schichten an die Pflegekräfte angepasst?
Ja, nehmen Sie beispielsweise den Nachtdienst, der um 6.15 Uhr endet. Da reicht eine Pflegekraft im Frühdienst für die Übergabe doch völlig aus. Das heißt, die zweite Pflegekraft kann auch 30 Minuten später anfangen, die dritte vielleicht eine Dreiviertelstunde später – und dann geht der Klinikalltag los. Die Stationsleitungen können die Teams so zusammenstellen, dass es zu den einzelnen Chronotypen passt. Das lässt sich gut spielen, ohne Qualitätsverlust oder Nachteile für die Patientenversorgung. Und bei vielen geht es um genau diese Nuancen.
Weil auch solche geringen Veränderungen einen messbaren Effekt haben? Die zweite Frage Ihrer Studie lautete ja: Welche Auswirkungen hat es auf die Gesundheit und das Wohlbefinden, auf Schlafqualität und -verhalten, wenn die Arbeitszeit dem individuellen Chronotyp entspricht – zu welchen Ergebnissen sind Sie hier gekommen?
Das Wohlbefinden der Teilnehmenden hat sich deutlich erhöht, sie bewerten unter anderem ihren Schlaf als qualitativ besser und auch länger. Die Tagesmüdigkeit hat abgenommen, der Enthusiasmus für das tägliche Leben zugenommen. Ein Indikator für die richtige Schlafdauer ist beispielsweise der Gebrauch des Weckers: Viele Mitarbeitende, die nach ihrem Chronotyp arbeiten, brauchen ihn nicht mehr zum Aufstehen. Um auszuschließen, dass es sich hierbei nur um Einmaleffekte handelte, haben wir die Wirkung zweimal durch einen wissenschaftlichen Fragebogen erhoben.
Müsste sich nach diesen Ergebnissen im Idealfall nicht auch die Behandlung eines Patienten nach seiner inneren Uhr richten?
Diese Frage stellen wir uns durchaus. Wenn Pflegekräfte oder Therapeuten ihre eigenen Chronotypen kennen, ist das ja noch lange nicht deckungsgleich. Vielleicht kann ein Patient zu einer bestimmten Zeit noch gar nicht seine Leistung etwa am Therapiegerät erbringen. Daher ist unser Wunsch, dieses chronobiologische Wissen in Zukunft noch mehr im Klinikalltag zu verstetigen und auch auf die Patienten zu übertragen.
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Sie setzen das Projekt Chronoclinic also fort?
Wir machen weiter, haben bereits unsere Betriebsvereinbarung um den Punkt „Chronobiologischer Arbeitseinsatz“ ergänzt. Derjenige, der sich testen lässt, hat einen Anspruch, so gut es geht gemäß seinem Ergebnis eingesetzt zu werden. Wir bieten zudem jedem neuen Mitarbeitenden an, sich typisieren zu lassen. Künftig möchten wir die Chrono-Zeiten auch im System hinterlegen, um sie unmittelbar für die Dienstpläne nutzen zu können. Unser Ziel ist, dass die Zeiten irgendwann wirklich ineinanderfließen, am besten automatisiert.
Wäre Ihr Projekt auch für andere Kliniken oder Pflegeeinrichtungen geeignet?
Deutschlandweit sind wir das erste Unternehmen, das eine chronotyp-orientierte Personaleinsatzplanung umgesetzt hat – und wir haben bewiesen, dass sie gelingen kann, dass sie Vorteile hat. Zusammen mit der AOK planen wir, ein Maßnahmenpaket zu erarbeiten, mit dem sich unser Projekt auf andere Unternehmen übertragen lässt. Sicherlich gibt es auch diejenigen, die jetzt eher den Kopf schütteln und einwenden: Wir haben ohnehin schon zu wenige Pflegekräfte, und nun will uns auch noch einer erzählen, wann wir sie wie und wo einsetzen sollen. Es geht aber vielmehr um die Bereitschaft, etwas zu verändern und jedem Mitarbeitenden individuell entgegenzukommen.
Natürlich können auch wir die Arbeitszeitgestaltung nicht perfektionieren, im Schichtdienst wird man immer wieder auch gegen die eigene innere Uhr arbeiten – aber wir können das System in jedem Fall optimieren. Und dann laufen die Pflegekräfte den Einrichtungen vielleicht nicht mehr weg, wird der Beruf attraktiver. Weil die Pflegenden durch dieses Angebot einfach persönliche Zuwendung und Wertschätzung erfahren.
Wer interessiert ist, kann sich direkt an Sie wenden?
Zusammen mit unserem Team unterstütze ich andere Kliniken oder Einrichtungen gern. Wir können Tipps geben und sie begleiten. Interessierte erreichen mich telefonisch unter 08762 91716 und per Mail unter n.dassler@klinik-wartenberg.de.
Interview: lin
Über Norman Daßler
Der 42-Jährige leitet inzwischen das Controlling der Klinik Wartenberg und ist dort auch verantwortliche Fachkraft für das Betriebliche Gesundheitsmanagement. Die Klinik ist mit mehr als 200 Betten die größte Einrichtung für stationäre geriatrische Rehabilitation in Bayern, sie liegt rund 50 Kilometer nordöstlich von München.