Es beginnt mit harter Überzeugungsarbeit. Immer wieder. Wenn Diana Heinrichs (Foto unten) Pflegekräften ihre Sturz-App vorstellt, erntet sie erst einmal viel Skepsis. „Viele fühlen sich auf den Schlips getreten und fürchten, dass wir ihnen etwas von ihrer Fachlichkeit wegnehmen“, sagt die 33-Jährige. Dabei hat sich die IT-Expertin mit ihrem im Januar 2017 gegründeten Start-up Lindera genau das Gegenteil vorgenommen: „Unser Ziel ist es, den Beruf aufzuwerten.“
Erster Schritt: Senior beim Aufstehen mit Smartphone filmen
Das Lindera-Team hat eine App entwickelt, die eine Gangbildanalyse eines älteren Menschen über eine normale Smartphone-Kamera ermöglicht. Grundlage sind ein 30-sekündiges Video sowie ein psycho-sozialer Test mit Fragen zur Persönlichkeit und zur Wohnsituation. Wie bestreitet der Senior seinen Alltag zu Hause? Wie ist seine seelische Verfassung? Welche körperlichen Beschwerden gibt es? Das von einer Pflegekraft oder einem Angehörigen aufgenommene Smartphone-Video zeigt, wie der Senior von einem Stuhl aufsteht und ein paar Schritte auf und ab geht. Aus diesen Daten ermittelt die App mithilfe künstlicher Intelligenz das individuelle Sturzrisiko und gibt Empfehlungen, um im Alltag folgenschwere Unfälle zu vermeiden.
Ab 80 stürzt jeder Zweite einmal im Jahr
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Stürze von Senioren verursachen Lindera zufolge jedes Jahr Behandlungskosten von mehr als zwei Milliarden Euro. „Mehr als 30 Prozent der über 65-Jährigen stürzen mindestens einmal jährlich, ab 80 Jahren sind es bereits 50 Prozent“, sagt Heinrichs. Was für Versicherungen ein Kostenfaktor und für Heime ein Haftungsrisiko ist, bedeutet für die Pflegenden erhöhten Pflegebedarf und aufwendige Reports und Dokumentationen. „Dabei sind Stürze vermeidbar, wenn die Risikofaktoren bekannt sind“, betont Heinrichs.
Die klasischen geriatrischen Assessments digitalisiert
Durch die Algorithmen ergibt sich eine Analyse, die bislang nur dem geschulten Auge des Arztes und der Pflegekraft möglich war. „Wir haben die klassischen geriatrischen Assessments digitalisiert, die auch in der ambulanten Pflege gemacht werden sollten, aber wegen des knappen Zeitbudgets oft zu kurz kommen“, sagt Heinrichs. Bis auf die Demenzdiagnose führe ihre App alle Aspekte zusammen und rechne beispielsweise auch die Nutzung eines Rollators mit ein. So könnten Pflegekräfte den Expertenstandard „Sturzprophylaxe“ umsetzen, den Dokumentationsaufwand reduzieren, Angehörige besser einbinden und sich mit dem Arzt vernetzen.
Es geht auch um die richtigen Maßnahmen
Bislang werde für die Sturzprophylaxe zwar großer Aufwand betrieben, doch vielfach fehle die Struktur, und häufig würden nicht die richtigen Maßnahmen getroffen, ist Heinrichs überzeugt. „Wir systematisieren das Verfahren und machen die Pflegenden selbst zu Entscheidern.“ Die App-Analyse diene als Diskussionsgrundlage, um mit Ärzten und Angehörigen künftige Maßnahmen abzustimmen. Einsetzbar sei der Test sowohl in der ambulanten als auch in der stationären Pflege und in allen Pflegesituationen und Wohnformen sowie beim Entlassmanagement.
Lindera-Gründer versprechen Datensicherheit
„Er lässt sich in jedes System integrieren, das derzeit in der Pflege im Einsatz ist“, sagt Heinrichs und verspricht Datensicherheit: „Alle Daten bleiben in Deutschland.“ Zudem werde die Videoaufnahme unmittelbar nach der Auswertung von Lindera gelöscht. Der Firmenname kommt übrigens von der lateinischen Bezeichnung für den Fieberstrauch. „Wie eine Pflanze, die dort am besten wächst, wo sie herkommt, möchten wir alle am liebsten lange und selbstbestimmt zu Hause leben“, beschreibt Heinrichs die Idee dahinter: „Zudem ist das Wort nahe an ‚lindern‘, und das ist auch Bestandteil der Pflege.“
Charité übernimmt wissenschaftliche Begleitung
Als Kooperationspartner hat Heinrichs neben der AOK Nordost bislang die Malteser und die Caritas, eine österreichische Klinikgruppe sowie einige Pflegeheime gewonnen. Für den medizinischen Part ist die Berliner Charité mit im Boot. Für eine Studie stellt die Uniklinik bis Ende April unter anderem ihren „Gangteppich“ zur Verfügung. „Das ist der Gold-Standard für die Ganganalyse“, sagt Heinrichs. Über Tausende Drucksensoren wird ermittelt, wie der Patient seine Füße aufsetzt, abrollt und belastet. Um zu überprüfen, ob die künstliche Intelligenz der App zu den richtigen Ergebnissen kommt, absolvieren Testpersonen sowohl den Lindera-Test als auch den Gang auf dem Teppich der Charité. Zudem übernehmen deren Experten der Forschungsgruppe Geriatrie das sogenannte Labeling. Das heißt, sie übersetzen die Lindera-Daten und geben ihnen eine medizinische Aussage.
Krankenkassen übernehmen die Kosten
Die kostenfreie App, die bislang als Beta-Version zur Verfügung steht, soll demnächst auch im AppStore sowie bei Google Play zu haben sein. „Die Kosten für jede Analyse, die wir aktuell mit sechs Euro kalkulieren, übernehmen die Krankenkassen im Rahmen der Sturzprävention“, sagt Heinrichs. Ihre App sieht die Lindera-Gründerin künftig als Teil jeder Pflegeberatung. Auch der präventive Hausbesuch, der laut Koalitionsvertrag von Union und SPD künftig durch Mittel des Präventionsgesetzes gefördert wird, kommt ihr wie gerufen.
Ganganalyse am besten alles zwei Monate
Geht es nach Heinrichs, setzen die Nutzer ihre App bald ganz regelmäßig ein. „Wir empfehlen, den Mobilitätstest mindestens quartalsweise, in der ambulanten Pflege alle zwei Monate und im Heim monatlich durchzuführen. So lassen sich Veränderungen in den einzelnen Risikokategorien frühzeitig erkennen.“ Mit anfänglicher Skepsis kann die 33-Jährige auch künftig gut leben: „Die Gegenargumente sind die gleichen wie bei fast allen neuen Technologien. Doch am Ende gewinnen alle.“
Autor: Jens Kohrs
Porträtfoto: Lindera