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Interview: 100 Tage im Amt

Andreas Westerfellhaus und der Exodus der Pflegekräfte

Der Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung, Andreas Westerfellhaus, zieht eine erste Bilanz: Ohne grundlegende Veränderungen, ohne Querdenken ist der Exodus der Pflegekräfte nicht aufzuhalten.

Andreas Westerfellhaus ist als Pflegebevollmächtigter noch keine 100 Tage im Amt, schon hat er einige provokante Thesen und Vorschläge auf den Weg gebracht. Sein nicht unumstrittener 5-Punkte-Plan „Mehr PflegeKRAFT“ kann als inhaltlicher Auftakt für die „Konzertierte Aktion Pflege“ gewertet werden. Der bis Mitte 2019 angelegte Prozess soll die Arbeitsbedingung in der Pflege so verbessern, dass sich für die geplanten 13.000 zusätzlichen Stellen in der Altenpflege auch tatsächlich genügend qualifizierte Bewerber finden.

Herr Westerfellhaus, Sie sind noch keine 100 Tage im Amt. Aber kurz vor „Konzertierten Aktion Pflege“ lohnt sich schon eine erste Bilanz: Überrascht Sie der Politikbetrieb?

Es ist so, wie ich es erwartet habe. Durch meine Arbeit als Präsident des Deutschen Pflegerats hatte ich ja bereits Einblicke in die Welt der Politik. Jetzt direkt involviert zu sein, ist schon etwas anderes – man steht noch mehr im Blickfeld. Aber so hat man auch bessere Chancen, gesehen und verstanden zu werden. Das macht mir Spaß, denn ich möchte etwas bewegen und die Pflege insgesamt voranbringen.

Spüren Sie einen hohen Erwartungsdruck?

Ich weiß, dass die Erwartungshaltung in der Pflege hoch ist und dies auch geäußert wird. Es bestätigt aber nur, dass Pflegende lange darauf gewartet haben, dass ihre Belange in den Mittelpunkt gerückt werden.

Deswegen sind die Bemühungen, die jetzt auf der Agenda des Gesundheitsministers stehen, genau die richtigen. Das hat sich ja bereits im Pflegesofortprogramm niedergeschlagen: mit zusätzlichen Stellen, der Aussage, dass jede zusätzliche Stelle im Krankenhaus refinanziert wird, durch Investitionsunterstützung auch im Rahmen von Digitalisierungsmaßnahmen und mit flächendeckenden Tariflöhnen. Und letztendlich auch mit der „Konzertierte Aktion Pflege“, die jetzt anläuft. Das ist ein Beleg dafür, dass man sich hier den Herausforderungen stellt. Eine sorgfältige, nachhaltige Verbesserung braucht aber auch ein wenig Zeit.

Da passt Ihr Positionspapier „Mehr PflegeKRAFT“ ja gut ins Bild. Allerdings haben Sie damit landauf landab für reichliche Diskussionen gesorgt. Ist es Ihnen damit ernst? Oder ist es nur als Impuls gedacht?

Ich bin nicht der Gesetzgeber – daher kann es nur ein Impuls sein. Es ist ein Vorschlag, den ich in die Öffentlichkeit und in die politische Diskussion gegeben habe. Letztendlich geht es um die Frage, wie die Maßnahmen, die der Minister zugesagt hat, nämlich die Finanzierung zusätzlicher Stellen, mit Personal besetzt werden kann. Denn neben der Frage der Finanzierung muss die Frage mitbeantwortet werden, wie wir die professionell Pflegenden erreichen können.

Wie sind Sie auf Ihre Thesen gekommen, was ist der Kern des 5-Punkte-Plans?

Die häufigste Aussage von Pflegekräften, die ihren Beruf verlassen oder in die Teilzeit gehen, ist doch: „Ich habe zu wenige Kollegen, ich kann die Arbeit nicht mehr schaffen. Ich habe kein planbares Wochenende, keinen planbaren Urlaub mehr.“ Da galt es, sich etwas zu überlegen, um diese Spirale zu stoppen.

Daher schlage ich vor, dass es in einem ersten Schritt für alle Pflegenden, die jetzt in den Beruf zurückkehren oder die ihre Arbeitszeit aufstocken wollen, für einen befristeten Zeitraum eine steuerfreie Prämie gibt.

Die Kopfprämie ist aber einer der am stärksten kritisierten Punkte? Sogar von den Pflegenden selbst.

Natürlich. Aber nur, weil die Diskussion bislang zu sehr auf den Vorschlag der 5.000 Euro Prämie gerichtet wurde. Wenn das mein einziger Vorschlag gewesen wäre, dann wäre die Kritik berechtigt. Ja, das Geld wäre schnell ausgegeben, der Effekt verpufft. Die Leitidee war aber, den Exodus der Pflegekräfte mit aufeinander aufbauenden Vorschlägen zu stoppen.

Ich hätte mir von manchem Kritiker gewünscht, sich mit dem Gesamtkonzept auseinanderzusetzen und das Programm nicht nur auf die Überschrift „Kopfprämie für Pflegekräfte“ zu reduzieren. Es gab reflexartige Reaktionen, wie: „Pflegende, die die ganz Zeit durchgehalten haben, sind wieder gekniffen.“

Und der Vorteil einer Kopfprämie?

Durch die „Kopfprämie“ würde zunächst einmal dafür gesorgt, dass mehr Fachkräfte da sind und sich die Arbeitslast auf mehrere Schultern verteilt. So gäbe es wieder mehr Zeit für den Patienten.

Und von meinem weiteren Vorschlag, dem Modell „80 Prozent Arbeitszeit bei 100 Prozent Lohn“ würden alle Pflegenden profitieren. Das ist doch eine erhebliche Arbeitsentlastung zugunsten der Gesundheit. In Schweden wurden bereits positive Erfahrungen mit diesem Modell gemacht: Pflegekräfte fühlten sich deutlich weniger belastet, vitaler und motivierter und wurden seltener krank.

Würde das 80:20-Modell wirklich Entlastung bringen?

Nach ersten Einschätzungen des Deutschen Instituts für angewandte Pflegeforschung könnten mit dem 80:20-Modell bis zu 40.000 zusätzliche Stellen, also 40.000 Vollzeitstellen, gewonnen werden, da viele Teilzeitkräfte dann auf 80 Prozent aufstocken würden. Hinzu kämen die Berufsrückkehrer durch die Prämien, die mit dem 80:20-Modell bessere Arbeitsbedingungen vorfinden würden. Damit hätten wir schon eine Menge erreicht.

Glauben Sie denn ernsthaft, dass eine komplette Übernahme Ihrer Vorschläge jemals umgesetzt wird?

Man sagt: Das Bessere ist der Feind des Guten. Jeder, der meine Vorschläge kritisiert, ist herzlich aufgefordert, bessere Vorschläge einzubringen, die nachhaltig wirken und Chancen auf Umsetzbarkeit beinhalten. Wir brauchen echte Praxisvorschläge mit Signalwirkung. Wenn wir von vornherein wieder anfangen, über die Unmöglichkeit der Umsetzbarkeit oder den persönlichen Vorteil zu diskutieren, dann könnten wir ja alles beim alten belassen. Das tun wir aber nicht! Ich würde mir eine sachliche Debatte über die Alternativen wünschen und nicht, dass immer sofort alles im Vorfeld zerschossen wird.

Also doch nur eine Diskussionsgrundlage?

Wenn man Vorschläge unterbreitet und sie in den politischen Raum gibt, dann muss in einer Demokratie auch diskutiert werden. Man muss selbstverständlich Umsetzungs- und Finanzierungsmöglichkeiten prüfen. Das heißt, wir müssen Partner und Unterstützer – auch im politischen Raum dafür gewinnen. Mir war es wichtig, dass wir in meiner Amtszeit sehr schnell Strukturen entwickeln, die vielleicht ungewöhnlich und auch „‚quer denkend“ ausgerichtet sind – aber Potenzial für echte, spürbare Verbesserungen haben. Im Übrigen waren die überwiegenden Rückmeldungen auf den 5-Punkte-Plan durchweg positiv.

Ein anderer Punkt, der ja in die ersten Wochen Ihrer Amtszeit gefallen ist, ist die Ausbildungs- und Prüfungsverordnung der generalistischen Ausbildung. Auch hier hagelte es Kritik.

Ich will die Aufregung gar nicht bewerten. Entscheidend ist, dass die Ausbildungs- und Prüfungsverordnung endlich verabschiedet ist. Der Zeitplan kann eingehalten werden. Somit ist gewährleistet, dass im September sowohl die Ausbildungs- und Prüfungsverordnung dem Bundesrat vorgelegt wird, als auch die Rechtsforderung zur Finanzierung. Damit ist die Verunsicherung von Trägern, Schulen und potenziellen Auszubildenden endlich beendet und die generalistische Ausbildung kann am 1. Januar 2020 beginnen.

Warum dann die Diskussion?

Welche Gedanken die Personen, die diesen politischen Kompromiss auf den Weg gebracht haben, getrieben haben, ist mir nicht ganz klar. Aber wenn ein Auszubildender nach zwei Jahren sagt, mir ist ein Abschluss in der Altenpflege lieber – und zwar in dem Bewusstsein, dass dieser Abschluss weniger Anforderungen im Vergleich zu Pflegefachfrauen und -männern stellt, und in dem klaren Wissen, dass diese Entscheidung nicht rückgängig zu machen ist, dann ist das eine private Willenserklärung für die eigene berufliche Zukunft.

Aber der Gesetzgeber hat auch entschieden, dass diese Entwicklung sechs Jahre lang evaluiert werden soll. Und 2026 werden wir sehen, wie sich die Mehrheit der Auszubildenden letztlich entschieden hat. Ich bin sehr optimistisch, dass die Auszubildenden die Vorteile einer Ausbildung mit breitem Einsatz- und Karrieremöglichkeiten erkennen werden.

Was können wir von Andreas Westerfellhaus als Bevollmächtigtem der Bundesregierung für Pflege in der Zukunft noch erwarten?

Wenn wir eine Versorgungssicherheit über alle Sektoren hinweg ernst nehmen, dann geht das nur interprofessionell und intersektoral. Das bedeutet, dass die Aufgaben der Gesundheitsberufe neu justiert werden müssen und zwangsläufig ein anderes Miteinander gelernt werden muss. Neue Arbeitsmethoden, andere Prozesse gilt es dabei einzubeziehen, letztlich auch Telematik-Infrastrukturen und eine Digitalisierung in den Arbeitsbereichen der Pflege. Dafür ist es notwendig, dass die rechtlichen und berufsrechtlichen Möglichkeiten geschaffen werden. Aber wenn Patienten und Pflegebedürftige auch künftig im Mittelpunkt stehen sollen, dann wird die Lösung einer qualifizierten Versorgung nur interprofessionell gelingen. Das ist mir wichtig. Und: Pflege muss mehr mitentscheiden, das bedeutet für mich einen stimmberechtigten Sitz im Gemeinsamen Bundesausschuss für eine künftige Bundespflegekammer.

Der Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung, Staatssekretär Andreas Westerfellhaus, wird beim Deutschen Pflegetag vom 14. bis 16. März 2019 sicher erste Ergebnisse der „Konzertierten Aktion Pflege“ und des Programms „Mehr PflegeKRAFT“ vorstellen. Sichern Sie sich schon jetzt Ihr Ticket. Hier geht es direkt zur Anmeldung.Mehr Informationen zu Andreas Westerfellhaus finden Sie hier

Interview: Kerstin Werner

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