Foto: ©MTG Production - Ralf Mersch

Ambulante Pflege

Ambulante Pflege nach Buurtzorg - Spaß statt Fließband!

Pflege, die sich nach den Bedürfnissen des Klienten richtet - eine Selbstverständlichkeit? Nein, eine Revolution, wie sich am Pflegekonzept Buurtzorg zeigt. Ein Interview mit Deutschland-Chef Johannes Technau

„Nachbarschaftshilfe“ klingt gut. Übersetzt ins Holländische klingt es spannend, frisch, nach Innovation: Buurtzorg (gesprochen „Bürtsorg“) ist ein ambulantes Pflegesystem, das der Holländer Jos de Blok entwickelt und 2007 gestartet hat. In den Niederlanden arbeiten mittlerweile rund 1000 Pflegeteams nach seinen Ideen, verteilt über ganz Holland, zentral organisiert von einer Trägergesellschaft in Almelo, bei der alle Pflegekräfte angestellt sind.

Auch in Deutschland haben sich einige Teams de Bloks Ansatz verschrieben. Im Gespräch mit pflegen-online erklärt Johannes Technau, Geschäftsführer von Buurtzorg Deutschland (Foto unten) im nordrhein-westfälischen Münster, was das Modell ausmacht und warum und wie es das deutsche Pflegesystem umkrempeln soll (auf dem Foto oben ist ein deutsches Team aus Hörstel zu sehen).

pflegen-online: Herr Technau, warum braucht die ambulante Pflege in Deutschland ein Modell wie Buurtzorg?

Johannes Technau: Weil die Arbeit den Pflegekräften einfach keinen Spaß mehr macht. Die Rahmenbedingungen in der Pflege sind so schlecht, dass die Menschen dort nicht mehr arbeiten wollen. Im Münchener Norden ist der größte Konkurrent für die Pflegedienste im Kampf um Beschäftigte mittlerweile der Flughafen, denn ob ich dort oder in der Pflege am Fließband arbeite, macht keinen Unterschied. Nur dass ich am Flughafen bessere Arbeitszeiten habe und mehr Geld verdiene. Das ganze System ist auf Standardisierung angelegt, doch das funktioniert nicht, wenn Menschen mit Menschen arbeiten.

Was unterscheidet Buurtzorg von „normalen“ Pflegediensten?

Vor allem die Organisation. Es wird in dezentralen Teams völlig ohne Leitungsfunktionen gearbeitet. Es gibt keine Pflegedienstleitung und auch keinen Team-Chef. Die Pflegenden haben auch keine Laufzettel, wo sie wann wie zu pflegen haben. Sie tragen alle Prozesse mit und arbeiten nicht verrichtungsbezogen. Dafür haben sie genug Zeit, um zusammen mit den Patienten und deren Angehörigen festzulegen, was getan wird. Gemeinsam ermitteln sie den persönlichen Bedarf und schauen, wie sich das am besten organisieren lässt. Unser Ziel ist mehr Selbstständigkeit für den Patienten – und das heißt eben, dass Grundpflege nicht per se das ist, was jeder braucht.

Ein Beispiel bitte.

Ein Team in Nordrhein-Westfalen betreut einen Patienten mit einer ziemlich großen Familie. Wir haben die Angehörigen für die Pflege des Großvaters so intensiv geschult, dass wir nur alle vier bis sechs Wochen dort sind. Familienmitglieder unterstützen ihn beim Waschen und messen zum Beispiel auch seinen Blutzucker. Ist die Familie mal unterwegs oder im Urlaub, kann unser Team auch kurzfristig wieder übernehmen. Dafür ist immer Pufferzeit eingeplant. Wir berechnen aus dem Sachleistungsbudget nur, was wir vor Ort wirklich leisten. So sparen auch die Kassen. Grundsätzlich arbeiten die Teams rund 60 Prozent als abrechnungsfähige Leistungszeit am Patientenbett. Der Rest ist Büro-, Anfahrt- und Urlaubszeit, denn die Pflegekräfte tragen auch deutlich mehr Verantwortung in der Verwaltung.

Wie reagieren die Kunden auf dieses Konzept?

Es gibt einige, die sich mit unserem Ansatz wirklich schwertun. Die Denkweise ist ja auch neu. Bei den meisten kommt sie aber gut an, und auch die Angehörigen haben deutlich mehr Spaß. Wenn man sie nicht gezielt und aktiv anspricht und fragt, ob sie sich an der Pflege beteiligen wollen, kommen die meisten nie auf die Idee. Dabei bedeutet das für sie auch mehr Flexibilität. Wenn wir zum Beispiel täglich um 6.30 Uhr kommen, um einer Patientin die Strümpfe anzuziehen und die Morgenmedikamente zu stellen, muss die Patientin auch immer um 6.30 Uhr wach und bereit dafür sein. Vielleicht kann die Aufgaben aber auch ihr Mann übernehmen, und die Pflegekraft schaut später vorbei. Samstags und sonntags, wenn die Kinder und Enkelkinder im Haus sind, springen die ein. Deshalb muss unsere Pflegekraft am Wochenende nur noch ganz selten vorbeikommen.

Das klingt sehr individuell.

Genau, doch unser Ansatz funktioniert nur, wenn unsere Mitarbeiter einen wirklichen Bezug zu der Familie aufgebaut haben. Das ist der Kern. Ein Pflegedienst verkauft Verrichtungen und schickt dafür seine Teams. Die Aufnahme des Bedarfs macht jemand anders als der Erbringer. Bei uns liegt alles in der Hand einer Pflegekraft – und dabei geht es nicht nur um die medizinischen Aspekte, sondern auch um das Private, die Finanzen, ja sogar um das Sexleben. Unsere Mitarbeiter wissen genau, wie ihr Patient lebt und wie stark die Angehörigen im Pflegealltag eingespannt sind. So kann gemeinsam über Entlastungsmöglichkeiten nachgedacht werden. Es geht nicht mehr darum, nur pflegerische Fachleistungen zu verrichten, sondern die Selbstständigkeit der Patienten zu erhöhen. Was diese persönlich möchten, wird bislang aber völlig außer Acht gelassen, genau wie das soziale Umfeld. Wir müssen die Pflegemaschine in Deutschland anhalten und wieder persönlicher machen.

Wie profitieren die Pflegekräfte davon?

Sie können bei der Arbeit wieder mehr Spaß haben, weil sie nicht nur ausführende Kräfte sind, sondern die gesamte Bandbreite ihrer Fähigkeiten gefragt ist. Examinierte Altenpfleger haben ein großes Wissen, das im aktuellen System überhaupt nicht genutzt wird. Neben der pflegerischen Kompetenz geht es bei uns zum Beispiel auch darum, mit dem sozialen Umfeld der Patienten und dem gesamten Netzwerk aus Nachbarn, Ärzten, Apotheke, Physiotherapeuten und vielen anderen zu kommunizieren und sie gezielt einzubinden. Unsere Teams, die aus maximal zehn bis zwölf Pflegekräften bestehen, sind deutlich freier und selbstwirksamer. Wenn etwas entschieden wird, muss das jeder verstehen und es mittragen. Deshalb soll auch jeder in einem bestimmten Turnus jede Aufgabe einmal erledigen. Alle zusammen entscheiden, welche Patienten sie betreuen, welche Fortbildung sie machen, welche neuen Kollegen eingestellt werden und wie sie den Dienstplan, die Touren und die Urlaubszeiten organisieren. So kennt jeder Einzelne alle Prozesse und wird selbst zu einem kleinen Unternehmer – mit dem Gefühl ‚das hier ist mein Laden, für den ich verantwortlich bin‘.

Da scheinen alle zu gewinnen. Wo ist der Haken?

Das fragt jeder, doch einen großen Haken gibt es nicht. Blöd ist vielleicht nur, dass wir keine Leitungsfunktionen mehr haben. Das ist schlecht für Führungskräfte. Bei Buurtzorg gibt es niemanden, der nur im Büro sitzt. Jeder im Pflegeteam fährt auch.

Wie verbreitet ist Buurtzorg in Deutschland jetzt?

Zurzeit arbeiten in Nordrhein-Westfalen vier Teams in Emsdetten, Münster, Hörstel (siehe Foto) und Lotte. In Leipzig ist ein Team im Aufbau, und auch in NRW wird es im nächsten halben Jahr mindestens zwei weitere Teams geben. Außerdem führen wir gute Gespräche in Bayern. Insgesamt ist das Interesse sehr groß. Wir müssen jetzt unsere Strukturen ausbauen – das heißt, wir müssen mehr Trainer ausbilden und an der Vernetzung arbeiten. Zum Beispiel soll jedes Team in Deutschland ein „Spiegel-Team“ in den Niederlanden haben, wo die Buurtzorg-Idee ja entstanden ist.

Apropos. Wie ist Buurtzorg in Deutschland organisiert?

Anders als in den Niederlanden gibt es zwei Teile. Der erste ist die Buurtzorg Nachbarschaftspflege, eine gemeinnützige Pflegeträgergesellschaft, die nicht gewinnorientiert arbeitet. Sie unterstützt alle Teams, die sich gründen wollen.

Wie genau wird das Buurtzorg-Modell verbreitet?

Dafür sorgen unsere Trainer. Sie schulen die Teams und begleiten sie bei allen Prozessen. Das läuft komplett auf Vertrauensbasis. Einen Buurtzorg-TÜV wird es nicht geben, das würde den Teams nur unnötig Druck machen, und wir wollen nicht die Ausnahme managen. Unser zentraler Punkt sind die Trainer. Sie arbeiten mit den Teams und können recht schnell erkennen, wenn etwas nicht so läuft, wie es soll. Das derzeitige System in Deutschland basiert hauptsächlich auf Misstrauen, und diesen Teufelskreis wollen wir durchbrechen.

Und Teil zwei der Organisation?

Teil zwei ist unsere Holding, die künftig das Lizenz- und Beratungsgeschäft übernehmen wird. Sie soll mit Workshops, Trainern und der Bereitstellung einer IT-Infrastruktur auch Gewinne machen. Dabei sind viele Kombinationen denkbar – Teams, die sich unter unserer Trägerschaft bilden, private Träger, die den Namen Buurtzorg verwenden, und auch private Träger, die auf den Namen verzichten, aber nach unseren Regeln arbeiten. Alles ist möglich. Natürlich haben wir die Idee, dass sich bei einem Träger, der ein Buurtzorg-Team aufbaut, langfristig die gesamte Organisation verändert und die mitarbeiterorientierte Struktur übernimmt.

Wie reagieren die Pflegekassen und das Gesundheitsministerium?

Wir erfahren viel Sympathie und Unterstützung, doch natürlich gibt es auch viele Fragen und vor allem noch zahlreiche Beschränkungen. Wir werden ja nicht nach einzelnen Leistungen bezahlt, sondern rechnen stundenweise ab. Mit den Pflegekassen in NRW haben wir dafür zumindest einen einheitlichen Stundensatz definiert, der alle Leistungen umfasst, die man im Rahmen der Pflege nach SGB XI erbringen kann. Damit haben wir ein Zeitbudget zur Verfügung, und in diesem Umfang können wir mit den Patienten etwas vereinbaren. Gemacht wird, was sinnvoll und nötig ist, und das kann auch ganz flexibel geregelt werden. Wir geben den Pflegekräften die Zeit, dem Patienten auch mal einen Kaffee zu kochen, wenn er damit Schwierigkeiten hat, oder ein Brot zu schmieren. So können wir auch solch furchtbare Situationen vermeiden, dass eine Pflegekraft einen weinenden Patienten zurücklassen muss, weil zum Beispiel die Zeit für die Haarpflege schon um ist. Selbstverständlich dokumentieren wir, was wir machen, aber abgerechnet wird nach einem einheitlichen Stundensatz.

Rechnet sich das für die Pflegeteams?

Nach einer Anlaufphase von sechs bis zwölf Monaten arbeiten unsere Teams in der Regel kostendeckend. Langfristig sollen alle einen Überschuss von ein bis zwei Prozent erwirtschaften, damit sie nachhaltig arbeiten, sich fortbilden und weitere Teams aufbauen können.

Wie geht es weiter? Sie planen auch ein wissenschaftlich begleitetes Modellprojekt.

Das stimmt. Dabei geht es nicht nur um die Fragen der Abrechnung, wir wollen auch belegen, dass mit unserem Ansatz in weniger Zeit mehr Patienten bei gleicher oder höherer Qualität betreut werden können. Wir binden ja Angehörige und Umfeld für bestimmte Leistungen ein, ohne sie damit allein zu lassen. Das geplante Modellprojekt ist auf drei Jahre angelegt. Den finalen Antrag dafür haben wir beim GKV-Spitzenverband, dem bundesweiten Verband der Krankenkassen in Deutschland, eingereicht und warten auf eine Entscheidung. Wann es starten wird, ist daher noch offen. Doch die Entwicklung hat jetzt schon so viel Schwung bekommen, das müssen und wollen wir unbedingt ausnutzen.

Interview: Jens Kohrs

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