Wer den Wido-Qualitätsatlas aufruft, sieht ziemlich schnell, dass die hellen Felder – die eher guten Qualitätswerte – sich mehrheitlich im Osten von Deutschland befinden. Das ist ganz leicht über das Klappmenü festzustellen – und zwar für alle zehn Messkriterien des Wido:
- Dauerverordnung von Schlaf- und Beruhigungsmitteln
- Klinikeinweisungen von Demenzkranken wegen Dehydration
- fehlende augenärztliche Vorsorge bei Diabetes
- das Auftreten von Dekubitus
- die Dauerverordnung von Antipsychotika bei Demenz
- die gleichzeitige Verordnung von neun oder mehr Wirkstoffen
- der Einsatz von für ältere Menschen ungeeigneter Medikation
- die Häufigkeit besonders kurzer Krankenhausaufenthalte von bis zu drei Tagen
- vermeidbare Krankenhausaufenthalte aufgrund von Stürzen
Wie ausgeprägt der Unterschied ist, bringt das Wido gleich zu Beginn in seiner Pressemitteilung zum Ausdruck: „In den westlichen Bundesländern kommen die risikoreichen Dauerverordnungen laut der Analyse deutlich häufiger vor als im Osten“, heißt es da. „Problematische Dauerverordnungen von Schlaf- und Beruhigungsmitteln in Heimen finden sich unter anderem im gesamten Saarland sowie in Nordrhein-Westfalen, wo 45 der 53 Kreise und kreisfreien Städte auffällige Ergebnisse aufweisen.“
Unsicher bei Demenz: Bayern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen
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Bei den Klinikeinweisungen von Demenzkranken wegen Dehydration zeigen sich die schlechtesten Werte ebenfalls im Westen: In Bayern, vor allem an der deutsch-tschechischen Grenze, in Niedersachsen, im Süden von Rheinland-Pfalz sowie in Nordrhein-Westfalen.
Fest steht: Durch eventuell ältere und kränkere Heimbewohner kommt es nicht zu den Unterschieden zwischen Ost und West – diese Risikofaktoren hat das Wido rausgerechnet.. Was können also die Gründe für das Ost-West-Gefälle sein? Wir haben zwei Pflegeexpertinnen gefragt – eine aus Sachsen, die andere aus Rheinland-Pfalz – und einen Wissenschaftler.
Lissy Nitsche-Neumann, Krankenschwester und Diplom-Pflegewirtin, Referentin bei der AWO in Dresden:
Ich vermute, dass wir im Osten von einer anderen Auffassung von Pflege geprägt sind. Wir wurden in der DDR während der Ausbildung und auch danach zu größerer Eigenständigkeit erzogen und womöglich zu einem ganzheitlicheren Blick auf die Patienten. Diese Einstellung wird offenbar weitergetragen, auch wenn die Wiedervereinigung schon über 30 Jahre zurückliegt. Es könnte sein, dass Pflegekräfte im Osten auch heute noch in der Tendenz mehr Selbstbewusstsein und Berufsstolz zeigen. Ein Beispiel: Einen Dauerkatheter zu legen, ist hier auch für Pflegefachkräfte in der Altenpflege selbstverständlich – ebenso wie Blutentnahmen und andere Tätigkeiten, die oft als ärztliche Tätigkeiten bezeichnet werden.
Insgesamt wird hier sehr darauf geschaut, welchen Beitrag die Pflegefachkraft zum Wohlergehen des Pflegebedürftigen eigenständig beitragen kann. Das sind natürlich Tendenzen, aber es passiert wirklich nicht selten, dass die Pflegefachkraft wegen eines Pflegebedürftigen noch eine Weile länger im Dienst bleibt, ohne, dass das gleich in Forderungen nach Freizeitausgleich oder Auszahlung von Überstunden mündet. Es geht stets darum, das Team nicht im Stich zu lassen und die Pflegebedürftigen gut versorgt zu wissen. Ob das noch eine Art Erbe der sehr guten beruflichen Ausbildung zu DDR-Zeiten sein könnte?
Andrea Würtz, examinierte Kinderkrankenschwester aus Rheinland-Pfalz, ehemals Gesundheitsamt-Mitarbeiterin, hat den Schliersee-Skandal aufgedeckt, zurzeit pflegepolitisch aktiv (am 26. September 2023 etwa auf dem UNIGlobal Europe in Brüssel, wo sie einen Vortrag über Private-Equity in der Pflege gehalten hat):
Meine erste spontane Eingebung war, dass das Verhältnis zur älteren Generation im Osten bis heute anders ist als im Westen. Der Familienzusammenhalt, das Sich-Kümmern scheinen mir nach wie vor ausgeprägter. Ich habe auch den Eindruck, dass es auf den Dörfern und in den kleinen Orten mehr Zusammenhalt gibt.
Ich würde vermuten, dass sich die Angehörigen auch aktiver in die Pflege einbringen, wenn ein Familienmitglied im Heim lebt.
Oliver Lauxen, examinierter Altenpfleger, stellvertretender Leiter des Instituts für Wirtschaft, Arbeit und Kultur (IWAK) an der Universität Frankfurt:
Eine wirkliche Antwort habe ich natürlich nicht parat, im Grunde nur Fragen: Sind die Wege zum Krankenhaus im Osten, so dass man eine Einweisung seltener in Betracht zieht? Man sieht auf der Wido-Karte ja, dass gerade in den Städten die Krankenhauseinweisungen sehr häufig sind. Angebot schafft Nachfrage – das ist doch immer wieder zu beobachten. Zudem müsste man sich die Personalstruktur im regionalen Vergleich genauer anschauen: Gibt es Unterschiede in der Relation Fachkräfte-Pflegebedürftige und so weiter?
Wido nennt keine Gründe für die Qualitätsunterschiede
Das Wido äußert sich nicht zu möglichen Gründen für die Unterschiede in der Pflegequalität zwischen Ost und West. „Welche konkreten Strukturen in den Heimen und welche regionalen Rahmenbedingungen dazu führen, dass die Pflegebedürftigen, je nachdem wo sie leben, so unterschiedlich von kritischen Versorgungereignissen betroffen sind, wird im Qualitätsatlas Pflege nicht beantwortet“, sagt Leiterin des Forschungsbereichs Pflege beim Wido Dr. Antje Schwinger. Angeboten würden aber Faktenblätter, in denen die Ursachen und Maßnahmen aus der Studienlage aufbereitet sind. Außerdem gebe es eine ausführliche Evidenzrecherche.
Auf die Frage nach den Konsequenzen des Report antwortet Antje Schwinger: „Der Qualitätsatlas Pflege soll dazu beitragen, Awareness zu schaffen, über die Versorgungssituation in Pflegeheimen. Er adressiert damit Fragen, die vor Ort zu stellen sind und richtet sich an die Pflegekassen und Trägerorganisationen der Leistungserbringenden, die gesundheitspolitisch Verantwortlichen in Landkreisen, Städten und Gemeinden.
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Info: Woher hat das Wido die Daten?
Insgesamt sind die Daten von rund 350.000 Pflegeheim-Bewohnerinnen und -Bewohnern ab 60 Jahren eingeflossen. Das entspricht rund der Hälfte aller stationär versorgten Pflegebedürftigen in Deutschland. Einbezogen und miteinander verknüpft wurden dabei die Daten aus der Kranken- und aus der Pflegeversicherung.
Autorin: kig