Der Fall hat in der Pflege- und Klinikbranche, aber auch in der ganzen Göttinger Region Aufsehen erregt: Eine Krankenschwester am Asklepios Fachklinikum (für Psychiatrie und Psychotherapie), dem ehemaligen Landeskrankenhaus Göttingen, wurde abgemahnt, nachdem sie eine Überlastungsanzeige gestellt hatte. Sie wehrte sich, klagte und erhielt vor einigen Monaten vom Arbeitsgericht Göttingen recht (Sie interessieren sich für die Hintergründe der Überlastungsanzeige? Dann lesen Sie die Pressemitteilung des Arbeitsgerichts Göttingen).
Verwaltungsdirektor lobt arbeitnehmerfreundliches Urteil
Jetzt wurde die schriftliche Urteilsbegründung veröffentlicht. Bernhard Ziegler, Vorstandsvorsitzender des Interessenverbandes Kommunaler Krankenhäuser (IVKK) nimmt dies zum Anlass, den Fall in einen größeren politischen Zusammenhang zu stellen. Der Verwaltungsdirektor des Klinikums Itzehoe sieht in dem Urteil eine Aufforderung an die Politik, „ die fehlgeschlagene Kommerzialisierung des Krankenhauswesens zu revidieren“. Der Beitrag von Bernhard Ziegler ist länger als andere Kommentare auf pflegen-online. Wir haben auf Kürzungen verzichtet, um Missverständissen vorzubeugen. Missverständnisse, die leicht entstehen, wenn ein Vertreter von Arbeitgeberinteressen ein arbeitnehmerfreundliches Urteil gutheißt.
Kommentar von Bernhard Ziegler
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Die nun mit schriftlicher Begründung vorliegende Entscheidung des Arbeitsgerichtes Göttingen (2 Ca 155/17), wonach ein privater Klinikbetreiber die Abmahnung einer erfahrenen Pflegekraft wegen Erstattung einer Gefährungsanzeige zurück nehmen muss, ist richtig! Und sie legt den Finger in eine schwärende Wunde des Krankenhauswesens in Deutschland: Niemand kann ernsthaft bestreiten, dass die politisch ermöglichte Kommerzialisierung des Krankenhausbetriebes die Probleme verschärft hat, anstatt sie zu lösen. Der Göttinger Fall ist also nur oberflächlich eine Bestätigung des Maßregelverbots. Auch ist es nicht in erster Linie eine Ermahnung des Arbeitgebers zum Maßhaltungsgebot. Es ist eine Aufforderung an die Politik, die fehlgeschlagene Kommerzialisierung des Krankenhauswesens zu revidieren. Hier sind die Gründe, warum das notwendig ist.
Öffentliche Hand vernachlässigt Investitionspflicht
Nicht nur die Kostenträger beklagen die Zweckentfremdung von Versichertenbeiträgen. Es ist offenkundig, dass das Krankenhauswesen in Deutschland unterfinanziert ist. Für Investitionen sind nicht die Krankenkassen zuständig, sondern die öffentliche Hand. Dies sind nach geltender Rechtslage die Länder, die ihrer verfassungsmäßigen Verpflichtung zu Errichtung und Unterhalt einer angemessenen Stuktur für die stationäre Versorgung nicht annähernd nachkommen. Sie vernachlässigen diese Pflicht seit vielen Jahren.
Politik agiert intransparent
Um diese Pflicht zu kaschieren wird ebenfalls seit Jahren von verschiedenen politischen Lagern die Mähr der Überversorgung Deutschlands mit Krankenhausbetten (gemessen am internationalen Standard) verbreitet. Es mag ja sein, das sich Zeiten ändern und auch technischer Fortschritt dazu führt, dass weniger Kapazitäten benötigt werden. Doch auch wenn dem so wäre (was hier nicht bestritten, aber auch nicht propagiert wird), bliebe es eine politische Aufgabe, diese Überversorgung mit dem Wähler zu konsentieren. Also: sich einen politischen Auftrag zu holen, das „Netz“ (von dem nach Aussagen heute verantwortlicher Gesundheitspolitiker manche Kliniken „genommen“ gehörten) neu und weniger eng zu knüpfen. Auf solch konsequentes politisches Agieren warten wir bis heute vergebens.
Kliniken werden zu Renditemaschinen
Statt dessen wurde „Wettbewerb“ ausgerufen. So weit, so gut. Wettbewewerb um Ideen und Modelle guter Betriebsführung, mit denen Effizienz gesteigert und Kosten gesenkt werden können ist wunderbar. Leider wurde aus diesem ursprünglich breit mitgetragenen Ansatz schleichend die Öffung des Krankenhauswesens zu einem Objekt für Investoren. Kliniken sind heute nicht nur Profit-Center, die Gewinne abwerfen sollen. Das wäre bereits an sich eine diskussionswürdige Verkürzung des sittlich und rechtlich gebotenen Sparsamkeitsgebots für öffentliche Aufgaben. Nein, Kliniken sind heute Betriebsstätten im Besitz internationaler, börsennotierter Kapitalgesellschaften, denen sie Renditen abwerfen dürfen.
Kapitalgesellschaften ohne Verpflichtung
Diese Kapitalgesellschaften sind keinem öffentlichen Versorgungsauftrag verpflichtet, sondern einzig und allein ihren Anteilseignern. Über steuerrechtlich komplexe Modelle können diese Gesellschaften, die weder dem Wähler, noch dem Beitragszahler und auch den Arbeitnehmervertretungen nur in begrenztem Umfang Rechenschaft schulden, ihren in Deutschland zu versteuernden Gewinn „optimieren“ und dass die letztlich ermittelten Gewinne dann auch in Deutschland versteuert werden, ist nicht viel mehr als eine fromme Hoffnung.
Politische Lobbyarabeit mit Solidarbeiträgen
Sehr wohl aber können sie - und tun das auch - ihre Mittel (die wie bekannt aus Solidarbeiträgen der Versichertengemeinschaft erwirtschaftet werden) steuerlich als Betriebsaufwand gewinnmindernd dafür einsetzen, politische Lobbyarbeit zu leisten. Damit lassen sich allerlei Berechnungen anstellen, wie viel wirtschaftlicher private Betreiber Krankenhäuser betreiben können, oder wie viel mehr Patienten sich den privaten Betreiber als Wahlmöglichkeit oder generell wünschen. Es können und werden sogar lokalpolitische Entscheidungen durch „Interessenvertretung“ genannte Landschaftspflege mitbeeinflussbar, ohne dass dies irgendwo transparent werden würde, solange ein effizientes Lobbyregister fehlt.
Wer Qualität steigert, wird bestraft
Auf diese Weise kommen politische Entscheidungen zustande, die sowohl die Rahmengesetzgebung öffnen für solche ursprünglich undenkbaren kommerziellen Betriebsmodelle, als auch Budgetentscheidungen beinhalten, wonach ein bereits unterfinanziertes Krankenhaussystem weitere Effizienzgewinne erwirtschaften muss. Und zwar unter Steigerung von Behandlungsqualität, die bereits im Stadium ex ante, also vor Inkrafttreten entsprechender Regulation, unterfinanzierte Strukturen erbringen mussten. Um noch eine Absurdität des Systems zu erwähnen: Jene, die es schaffen, ihre Qualität zu steigern und gewünschte Attraktivität für Patienten durch Zuwachs der Behandlungszahlen unter Beweis zu stellen, werden dafür anschließend durch „Mehrleistungsabschläge“ bestraft.
Ökonomisierung schreckt Nachwuchs ab
Dieses sind die Hintergründe, vor denen Fälle wie der Göttinger zu sehen sind. Ein unterfinanziertes System ist nicht in der Lage, attraktiv auf zukünftige Berufseinsteiger zu wirken. Folglich kommt es bereits hier zu strukturellem Bewerbermangel und Nachwuchsproblemen, die sich um so mehr zuspitzen, je enger die Wirtschaftlichkeitsschraube angezogen wird.
Das System, nicht die Arbeitnehmer sind destruktiv
Gefährundungsanzeigen mögen eine Waffe sein, die Arbeitnehmervertretungen wählen mögen, um sich gegenüber „der Arbeitgeberseite“ Druckpotential zu sichern. Und das ist immer unangehm, besonders dann, wenn objektiv tatsächlich keine Gefährdung vorlag. Doch wir sollten uns nichts vormachen: Gefährdungsanzeigen sollten eine absolute Ausnahme sein. Dass sie es nicht sind, liegt nicht an destruktiven Arbeitnehmern, sondern an einem destruktiven System, welches eine gemeinnützige Aufgabe der Daseinsvorsorge zu einem profitorientierten kommerziellen System umbaut. Das Göttinger Urteil ist eine kaum zu übersehemde Aufforderung an den Gesetzgeber, seiner Verantwortung nachzukommen!
Welche Versorgungsstruktur wollen wir?
Ich sehe als Vorsitzender des IVKK zwei Prioritäten: erstens und vordringlichst ist ein politischer Konsens herzustellen über die Versorgungsstruktur. Zweitens ist diese Struktur sodann auskömmlich investiv zu finanzieren. Dann werden drittens beinahe zwangsläufig ausreichende Mittel frei, um den Betrieb personell und fachlich nach angemessenen Standards zu organisieren!
Autor (Kommentar): Bernhard Ziegler