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Foto: Rainer Fuhrmann - stock.adobe.com

Sucht im Alter

8 Tipps für den Umgang mit suchtkranken Bewohnern

Wie Pflegekräfte das Problem der Alkoholabhängigkeit oder Tablettensucht am besten ansprechen und warum ein Entzug nicht immer das Ziel sein muss  

Mit einem Tabu zu brechen, ist manchmal gar nicht so einfach. Beate Schwarz ruft dazu auf. Beruflich und ganz offiziell. Schwarz möchte, dass Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit in der Pflege keine Tabuthemen mehr sind. „Einrichtungen sollten Sucht nicht als Stigma sehen, sondern ihre Teams gezielt auf den Umgang mit suchtkranken Senioren vorbereiten“, sagt Beate Schwarz, Leiterin des Projekts SAM (Suchtgefährdete alte Menschen) vom Suchthilfezentrum der Stadtmission Nürnberg. Das Angebot hilft Pflegeeinrichtungen dabei, unter anderem durch Schulungen und Coachings. Auch Angehörige werden unterstützt.

In einer dreijährigen Pilotphase wurde SAM vom Bayerischen Staatsministerium für Gesundheit und Pflege gefördert und von der Universität Bamberg wissenschaftlich begleitet. Vier Einrichtungen nahmen teil und durchliefen die Gesprächs- und Schulungsprogramme. Inzwischen ist SAM Regelangebot in Mittelfranken: Der Bezirk übernimmt die Finanzierung, sodass das Suchthilfezentrum sein seniorenspezifisches Programm dauerhaft fortführen kann. 

Nun ist Mittelfranken nur ein kleiner Teil von Deutschland, außerhalb der Region werden es Pflegeheime und Altenpflegefachkräfte schwer haben, in den Genuss einer SAM-Schulung zu kommen. Doch ein Überblick über die wichtigsten Tipps kann auch ihnen weiterhelfen.        

1. Klare Leitfäden – einheitlich handeln

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Bislang, sagt Schwarz, gebe es in der Fläche keinen Standard für den Umgang mit legalen Süchten in der Pflege. Auch Altenpflegeschulen behandelten das Abhängigkeitsthema ganz unterschiedlich – von gar nicht bis ausführlich. Selbst innerhalb einer Einrichtung oder eines Pflegedienstes verhielten sich die Teammitglieder häufig uneinheitlich – einige lassen Süchtige gewähren, andere schreiten ein.

„Wir brauchen klare Regelungen in den einzelnen Heimen, die von den Vorgesetzten gewünscht und vertreten werden“, fordert Schwarz. Ohne solche Handlungsleitfäden bleibe die Verantwortung an der Basis hängen, „und die Pflegekräfte haben keine Sicherheit“.

Der Handlungsdruck ist groß:

  • Schätzungen zufolge hat jeder zehnte Bewohner von stationären Pflegeeinrichtungen ein Alkoholproblem.       
  • 25 Prozent der über 70-Jährigen in den Heimen sollen von Medikamenten abhängig sein, häufig von Schmerzmitteln, vor allem jedoch von Beruhigungs- und Schlafmedikamenten.
  • In fast allen Einrichtungen seien Suchtfragen „täglich relevant“, sagt der Psychologe und Sozialmediziner Jörg Wolstein von der Universität Bamberg, der SAM wissenschaftlich begleitet hat.
  • Doch das Personal ist dafür sehr unterschiedlich gewappnet. Die von Wolstein befragten Pflegekräfte halten rund 27 Prozent ihrer Klienten für suchtgefährdet oder süchtig. Etwa 70 Prozent wünschen sich deshalb mehr Fortbildung, um mit den Betroffenen angemessen umgehen zu können. „Wer geschult ist, weiß sich zu verhalten. Das entlastet im Alltag“, ist Wolstein überzeugt.

Wie kann ein verträglicher Umgang mit Wein, Bier & Co. im Pflegeheim aussehen? Wir haben Pflegedienstleitungen, Gerontologen und Suchtexperten nach Best-Practice-Tipps gefragt – lesen Sie unseren Artikel 13 Thesen zu Alkohol im Pflegeheim 

2. Pflegekräfte sollten eigene Vorurteile überwinden

Beate Schwarz sieht das genauso. Doch sie kämpft gegen tiefsitzende Ansichten und Vorverurteilungen. „Oft werden Süchtige nicht als krank, sondern als schuldig gesehen – mit einem schwachen Willen, als hätten sie etwas falsch gemacht und ihre Situation selbst verschuldet. Oder sie gelten als Opfer – zum Beispiel einer schwierigen privaten Situation“, beschreibt Schwarz: „Beides ist nicht zielführend im Umgang mit Suchtkranken.“

Auch weil das Thema extrem negativ gesehen werde, sei es so schwierig, es pragmatisch anzugehen. „Oft wird unglaublich lange weggeschaut“, weiß Schwarz. Das zeige sich etwa bei vielen Stürzen, für die gerne andere Begründungen als die Sucht angegeben werden. „Doch wer Suchtgefährdete in der Pflege nicht darauf anspricht, vergrößert das Problem, verhindert eine positive Veränderung und verwehrt den Betroffenen den Zugang zu Hilfsmöglichkeiten.“

3. Verhalten der Süchtigen ist kein Versagen der Pflege

Auch die Pflege der Betroffenen zu gestalten, sei schwierig – nicht nur weil die Gewohnheiten der Süchtigen schwer zu akzeptieren seien. „Viele Alkoholabhängige wollen sich zum Beispiel nicht waschen lassen und weisen die Pflegekräfte ab“, erklärt Schwarz. Diese wiederum stellten dann häufig ihre eigene Kompetenz infrage und werteten das Verhalten der Süchtigen als Versagen der Pflege. „Wenn wir nicht handeln, erreichen wir die Süchtigen später und belassen die Pflegekräfte in der Unsicherheit“, mahnt Schwarz.

4. Worte wie „abhängig“ und „Missbrauch“ sind tabu

Um die Betroffenen nicht vor den Kopf zu stoßen, empfiehlt es sich auf Worte zu verzichten wie

  • abhängig
  • gefährdet
  • alkoholkrank 
  • Missbrauch

„Pflegekräfte sind keine Ärzte oder Suchthelfer. Sie handeln nicht wegen einer Diagnose, und auch der Konsum an sich ist für sie nebensächlich“, erklärt Schwarz. Vielmehr gehe es darum, die Risiken anzusprechen – beispielsweise die Sturzgefahr – und damit sachlich zu argumentieren.

Dafür müssen Pflegekräfte die Risiken nicht nur erkennen und ihre Einschätzung weitergeben. Sie müssen auch lernen, mit den Betroffenen angemessen darüber zu reden – ohne zu moralisieren. Das ist eine Herausforderung. „Es erfordert große Gesprächskompetenz und auch psychologisches Geschick, zum Beispiel wenn es darum geht, den Konsum eines Betroffenen in sozial verträgliche Bahnen zu lenken“, sagt Schwarz.

5. Individuelles Fallmanagement aufbauen

Genau deshalb ist ihr ein individuelles Fallmanagement so wichtig. „Es muss ganz klar sein, wer Risiken bewertet, möglichst nach dem Mehr-Augen-Prinzip, und wenn ein Risiko erkannt wird, muss das Team strukturiert vorgehen.“ Das Team sollte wissen:

  • Was passiert jetzt?
  • Wer spricht den Betroffenen an?
  • Was sagen wir?
  • Und vor allem: Was wollen wir erreichen?

„Es muss klar sein, welche Ziele realistisch sind“, so Schwarz, „eine kurzfristige Intervention aus dem Bauch heraus hilft nicht weiter.“

6. Thema offen ansprechen – nicht übertrieben reagieren

Für die Pflegekräfte ist das nicht selten eine Gratwanderung. „Es ist wichtig, nicht überzureagieren“, mahnt Schwarz. „Wer zwar regelmäßig trinkt, aber keine Ausfälle hat, nicht stürzt oder randaliert und die Pflege arbeiten lässt, muss nicht zwangsweise verändert werden – denn er ist keine große Gefahr für sich und sein Umfeld.“ Entscheidend sei, in Verbindung zu bleiben, das Thema offen zu besprechen und weiter zu beobachten.

„Ein Suchtverhalten kann von der Pflegeeinrichtung toleriert werden, wenn derjenige es wirklich so will und dabei langfristige Risiken bewusst in Kauf nimmt.“ Allerdings müsse das auch so benannt werden, betont Schwarz: „Pflegekräfte sollten Betroffene deshalb unbedingt ansprechen und sie fragen, ob sie ihre Situation ändern wollen und dafür Hilfe möchten.“

7. Klare Grenzen setzen

Anders ist die Lage, wenn das Recht auf Selbstbestimmung mit den Heimregeln kollidiert. Schwarz berichtet etwa von einem Fall, in dem ein Bewohner unter Alkoholeinfluss ein Radio von seinem Balkon auf den Bewohner darunter schleuderte, oder von Boxschlägen gegen Pflegekräfte während des Waschens. „Da müssen die Einrichtungen ganz deutliche Grenzen setzen und dürfen auch nicht um das Thema herumeiern“, sagt Schwarz. „Die Pflege muss auf solche Fälle vorbereitet sein.“ Dazu gehöre auch, die Angehörigen einzubinden und festzulegen, wann externe Hilfe zum Beispiel von Ärzten und Apothekern geholt wird.

8. Gemeinsam einen realistischen Plan entwickeln

Das Ziel sei es immer, gemeinsam mit den Betroffenen einen realistischen Plan zu verhandeln und konsequent und pragmatisch am Thema zu bleiben, um eine Entlassung zu vermeiden. Die Einrichtungen, die am SAM-Projekt teilgenommen haben, hätten damit Erfolg. Schwarz weiß von einigen Bewohnern, die ihren Alkoholkonsum von sich aus reduziert haben: „Viele sind offen dafür und reißen sich zusammen – schließlich haben sie etwas zu verlieren.“

Im Idealfall läuft es so wie im Nürnberger Adolf-Hamburger-Heim. Dort hat das Pflegeteam das Vertrauen der betroffenen Bewohner gewonnen. „Sie sagen jetzt Bescheid, wenn sie etwas trinken, und dann schauen die Pflegekräfte öfter nach ihnen“, beschreibt Beate Schwarz. Die Zahl der Stürze zum Beispiel sei seitdem deutlich zurückgegangen.

Weitere Ergebnisse des Projekts

  • Gemeinsam mit dem suchthilfezentrum konnten die teilnehmenden Einrichtungen eine Gesprächskultur entwickeln, in der sich Suchtprobleme und -risiken angemessen thematisieren lassen. Die Fachkräfte haben dabei gelernt, Betroffene, Angehörige und Fachdienste in einen lösungsorientierten Austausch zu bringen und individuelle Hilfe zu suchen.
  • Im Rahmen des Projekts ist eine fachlich geleitete Selbsthilfegruppe auch für Angehörige suchtkranker Senioren entstanden, die sich zweiwöchentlich im Suchthilfezentrum trifft.
  • Die seniorenspezifische Suchthilfe gehört nun zum regulären Angebot des Suchthilfezentrums. Darüber hinaus bleibt das Suchtzentrum Ansprechpartner für alle Ratsuchenden aus der Pflege.

Autor: Jens Kohrs/lin

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