Im April wird sich der Schliersee-Skandal zum dritten Mal „jähren“. Seitdem erlebe ich ein Wechselbad der Gefühle, es war und ist nicht immer alles leicht. Dennoch: Mir ist es wichtig weiterzumachen.
Gerne wiederhole ich: Ich bereue nichts. Mir geht es um die Menschen, um die pflegebedürftige Heimbewohnerinnen und -bewohner, die damals in der Seniorenresidenz Schliersee lebten, und um deren Angehörige. Jedem Einzelnen von Ihnen schulden wir neben einer Aufarbeitung die Zusage, alles zu tun, dass sich so etwas nicht wiederholen kann. Und wir selbst? Wir professionellen Pflegekräfte? Wir schulden uns selbst, alles dafür zu tun, damit wir wieder unser ganzes Fachwissen im Pflegealltag tatsächlich einbringen können und die zunehmende Deprofessionalisierung unseres Berufes nicht billigend in Kauf nehmen – sprich, nicht mit der Ist-halt-so-Haltung resignieren. Wir werden nicht schulterzuckend die „Kapitulation in der Pflege des 21. Jahrhunderts“ hinnehmen, Unser Leitgedanke lautet: „Pflexit – nein, Danke! Jetzt erst Recht – willkommen in der neuen Pflege des 21. Jahrhunderts“. Es liegt an uns, dies zu forcieren.
Es gibt gute Pflegeheime – aber leider zu wenige davon
Die Realitäten kennen und erleben wir, nur zu gern würden wir die Mär des „Einzelfalles“ glauben. Ich möchte nicht pauschalisieren und jedes Heim oder jede vollstationäre Einrichtung „schlecht“ nennen. Im Gegenteil: Ich freue mich über jede gute Einrichtung mit einem stabilen und kontinuierlichen Personalstamm und guter Pflege – aber leider gibt es zu wenige davon. Nachdem ich diverse Investigativ-Reportagen (wie „Team Wallraff) intensiv begleitet und einfach unfassbares Filmmaterial gesichtet habe (glauben Sie mir, dass das vollständig ungepixelte Material um so vieles schlimmer ist), kann ich mich nur wiederholen und sagen: Wir müssen jetzt handeln!
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Ich möchte mich bei allen, die mir so offen geschrieben haben, herzlich bedanken. Insbesondere nach der Ausstrahlung des SWR-Nachtcafés am 24.Februar habe ich auf den unterschiedlichsten Wegen Dutzende Zuschriften aus unserer Berufsgruppe erhalten, aber auch von vielen Pflegebedürftigen und Angehörigen – Ärzte waren ebenfalls darunter. Das ist gut, zeigt es doch ganz klar, wie bewusst uns allen die Situation ist, und dass wir eben doch nicht völlig aufgegeben haben.
Viele Pflegekräfte sind an Veränderung interessiert
Oft haben Sie in Ihren Briefen Angst und Sorge geäußert. Diese Gefühle sind verständlich. Tatsächlich kann ich Sie nach meinen Erfahrungen mit dem Whistleblowing auch nicht guten Gewissens ermuntern, es genauso zu machen wie ich. Doch wünsche ich mir sehr, dass wir zusammen in dieselbe Richtung gehen, denn gemeinsam sind wir einfach stärker.
Natürlich habe ich in anonymen Zuschriften auch Aussagen gelesen wie „nie wieder Pflege“, „bin jetzt Frührentner*in“, „suche mir etwas, wo es weniger schlimm ist“, „reduziere meine Arbeitszeit, damit ich das Elend nicht mehr so oft sehen muss“ und vieles mehr. Doch die meisten Pflegekräfte haben den Entschluss geäußert, einen echten Veränderungsprozess in Gang zu setzen. Dafür müssen wir uns aber einig sein, gemeinsam zusammenstehen und uns in erster Linie auch für die uns anvertrauten Pflegebedürftigen gleich welchen Alters einsetzen. Dazu sind wir verpflichtet.
Wir dürfen nicht dem Druck der Kollegen weichen
Wie schön wäre es, den Kampf für bessere Arbeitsbedingungen auf der gleichen Ebene anzusiedeln wie das Wohl der Pflegebedürftigen. Dafür dürfen wir uns aber nicht selbst ausbremsen, dürfen nicht resigniert die x-te Schicht in vollstationären Einrichtungen als einzige Fachkraft mit 40 bis 50 Pflegebedürftigen akzeptieren, dem Druck der Kollegen nachgeben („wenn ich das jetzt eine Woche gemacht habe, kannst Du das ja wohl auch“). Wenn wir so weitermachen, wird es schwierig, etwas an der Situation zu ändern. Auch politisch lassen wir uns zu oft in den Hintergrund drängen.
Wir haben so viel Wissen – warum zeigen wir nicht viel deutlicher, was wir können? Liebe Kolleginnen und Kollegen, dazu wäre es so wichtig, die Anonymität zu verlassen und für sich selbst einzustehen – sprich: Berufsstolz zu zeigen. Das ist ein längerer Weg – darüber bin ich mir bewusst.
Das Whistleblowing hat mein Gefühl der Ohnmacht gemildert
Gemeinsam wäre so vieles leichter. Persönlich kann ich Ihnen sagen, dass es definitiv etwas „mit mir gemacht hat“, nun, im dritten Jahr nach dem Whistleblowing morgens in den Spiegel zu schauen und zu sagen „jetzt erst recht“. Es hat auf jeden Fall die Ohnmacht und das Gefühl der Hilflosigkeit gemildert und mich stärker gemacht – trotz einiger Enttäuschungen, die ich zugegebenermaßen erleben musste.
Daher kann ich es nur wiederholen: Stehen Sie auf, allein oder gemeinsam! Ich habe mich bewusst für meinen Beruf entschieden und möchte ihn so bald wie möglich wieder mit Stolz und Zufriedenheit aktiv ausüben können. Eben weil professionelle Pflege etwas so tief Erfüllendes sein kann – für Sie als Pflegende und für den Menschen, der Ihre Pflege erhält. Erinnern Sie sich, wann Sie etwas tief Erfüllendes zuletzt nach Ihrer Arbeit empfunden haben?
Wir haben doch gemerkt, dass Überlastungsanzeigen nichts nützen
Vielleicht gelingt es mir, Ihnen einige Denkanstöße für die nächste Stationsbesprechung zu geben, oder Ihnen auf diesem Weg Mut für den nächsten Schritt zu machen. Beschreiben Sie die Missstände gemeinsam, wir alle haben doch längst gemerkt, dass die Überlastungsanzeigen nicht wirksam sind. Überlegen Sie als Team, wann und wie oft Sie im Bereich der gefährlichen Pflege unterwegs sind – schreiben Sie es mit klaren Worten auf. Überlegen Sie selbst, wann Sie die guten und wichtigen Impulse der Fortbildungen, die man Ihnen gewährt hat, auch nach der Fortbildung praktisch haben einsetzen können? Machen Sie dies alles Ihrem Arbeitgeber deutlich, werden Sie konkret, nennen Sie Beispiele.
Zeigen Sie Stärke: Überlegen Sie einzeln oder im Team, wie Sie das Ziel, die Ihnen anvertrauten Pflegebedürftigen besser zu versorgen, erreichen können. Blicken Sie auch auf die Auszubildenden (von denen mir auch viele geschrieben haben): Überlegen Sie gemeinsam, warum die Realität leider gar nichts mit dem Standard in den Praxisanleitungen zu tun hat. Diese Diskrepanz ist häufig der Grund, warum unser Nachwuchs das Weite sucht.
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Ihre Zuschriften lassen mich weiter hoffen
Suchen sie aber auch nach positiven Beispielen: Wo funktioniert etwas besonders gut? Schauen Sie sich diese Perlen der Pflege genau an und fragen Sie sich: Was brauchen Sie und Ihr Team, um ebenso gut arbeiten zu können. Und bei nicht tragbaren Zuständen: Schauen Sie nicht weg, resignieren Sie nicht, stehen Sie auf!
Ihre Zuschriften lassen mich weiter hoffen, dass wir uns wehren werden, wenn Arbeitgeber etwa gerade versuchen, die Fachkraftquote politisch gewollt weiter sinken zu lassen, beziehungsweise flexible Ausnahmen gestalterisch und kreativ für sich zu nutzen. Nein, in unserer Profession kann nicht jeder einfach unausgebildet mitmachen, pflegefachlich vorbehaltene Tätigkeiten übernehmen. Das können und dürfen wir nicht mehr zulassen. Wir wissen doch alle, dass solche Entscheidungen nicht nur auf unserem Rücken, sondern in erster Linie auf dem Rücken der Pflegebedürftigen ausgetragen werden.
Ich weiß, dass „Wir“ das nicht wollen! .Daher – seien Sie stark und solidarisch! Kämpfen Sie, wo es nötig ist!
Autorin: Andrea Würtz
Über Andrea Würtz
Die Kinderkrankenschwester, Jahrgang 1977, hat im Mai 2020 die Missstände in der Seniorenresidenz in Schliersee aufgedeckt. Damals war sie für das Gesundheitsamt tätig. Seit Ihrem Examen im Jahr 2001 hat sie viele Bereiche im Gesundheitswesen kennengelernt, darunter die ambulante Kinderintensivpflege, die Arbeit im Frühchen-IMC, in der OP-Anästhesiepflege und als Study Nurse im Bereich Onkologie. Außerdem war sie PDL in der Tagespflege und Hygienebeauftragte. Seit Schliersee kämpft sie gegen Missstände in der Pflege an.
Ein Beitrag von Andrea Würtz auf Facebook (veröffentlicht von der Rechtsdepesche):
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