Um große Worte ist der Bundesgesundheitsminister selten verlegen. „Gute Pflege braucht menschliche Zuwendung. Sinnvolle Apps und digitale Anwendungen können Pflegebedürftigen aber helfen, ihren Alltag besser zu bewältigen. Deshalb machen wir digitale Helfer jetzt auch für die Pflege nutzbar“, sagte Jens Spahn zur Verabschiedung des Gesetzes zur digitalen Modernisierung von Versorgung und Pflege (DVPMG) Ende Juni. Und: „Mit dem neuen Digitalisierungsgesetz machen wir unser Gesundheitswesen zukunftsfester“.
„Einheitliche digitale Prozesse – das ist wahrer Fortschritt“
Die schöne digitale Zukunft lesen in diesem Gesetz aber nicht alle Leistungserbringer im Gesundheitswesen. So sieht der Deutsche Evangelische Verband für Altenarbeit und Pflege e.V. (DEVAP), größter evangelischer Fachverband auf Bundesebene, nur Stückwerk in dem beschlossenen Gesetz. Besonders wenn es um die Digitalisierung der Genehmigungs- und Abrechnungsprozesse geht. „Bei der Nennung des Schlagworts ‚Digitalisierung in der Pflege’ werden in der öffentlichen Diskussion oftmals nur assistive Techniken in den Blick genommen“, sagt der DEVAP-Vorstandsvorsitzende Wilfried Wesemann. Es gehe aber nicht nur um Monitoring, Robotik & Co.: Es müssten vor allem die Abrechnungs- und Verwaltungsprozesse digitalisiert werden. „Weil diese die Grundlage für eine effiziente Zusammenarbeit bilden. Der wahre Fortschritt liegt darin, mit einheitlichen digitalen Verfahren den Verwaltungsaufwand in den Einrichtungen deutlich zu verbessern und zu beschleunigen.“
Täglich werden 9 Minuten pro Pflegebedürftigen verschwendet
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Welches Potenzial in der Digitalisierung bei der Pflegedokumentation liegt, hat schon 2013 eine Studie des Statistischen Bundesamtes belegt. Danach fielen allein für das händische Ausfüllen der Leistungsnachweise jährlich rund 1,9 Milliarden Euro an. Umgerechnet entspricht dies einen täglichen Aufwand von 9 Minuten pro Pflegebedürftigen, der dann eben nicht für die Pflege genutzt werden kann.
Wilfried Wesemann: Die Krankenkassen blockieren
Dass diese Erkenntnisse nicht in das Digitalisierungsgesetz eingeflossen sind und mögliche digitalisierte Verordnungs- und Abrechnungsverfahren vertagt wurden, führt Wesemann auf „Blockaden“ der Krankenkassen zurück. Seine Forderung: „Die Blockade der Krankenkassen muss endlich aufhören: Generell muss jedes Verfahren als Regelfall digital erfolgen – ohne Papierversion daneben. Die Krankenkassen müssen zeitnah verpflichtet werden, endlich einheitliche Antwort- und Rückmeldeverfahren an die ambulanten Pflegedienste auf digitalem Weg einzuführen.“
GKV-Spitzenverband: „Wir setzen uns für Digitalisierung in der Pflege ein“
Die Krankenkassen weisen dies zurück. So heißt es beim GKV-Spitzenverband auf Anfrage: „Die Ausgestaltung der Telematik im Gesundheitswesen gehört zu den gesetzlichen Aufgaben des GKV-Spitzenverbands. Dabei setzt sich der GKV-SV auch aktiv für die Digitalisierung in der Pflege ein. So hat der GKV-SV unter anderem das Modellprogramm zur Einbindung der Pflegeeinrichtungen in die Telematikinfrastruktur eingerichtet.“
Kassen gehen nicht auf DEVAP-Vorwurf ein
„Nein“ sagt auch Laura Hassinger, TK-Pressesprecherin für Pflege und Zusatzversicherungen: „Die Techniker Krankenkasse hat die Digitalisierung im Gesundheitswesen und im Pflegebereich von jeher unterstützt und aktiv mitgestaltet. Wir setzen große Hoffnung in die vielen Chancen, die eine patienten- und zukunftsorientierte Digitalisierung sowie eine damit einhergehende stärkere Vernetzung für Pflegende und Gepflegte bieten, und fordern, diese konsequent zu nutzen.“ Auf den konkreten Blockade-Vorwurf gehen beide Stellungnahmen nicht ein.
„Den Kassen fehlen Anreize, gemeinsam und einheitlich zu handeln“
Kein Wunder, meint Sebastian Wirth, Geschäftsführer zweier Diakoniestationen in Gummersbach. Denn „die Blockade der Krankenkassen ist systemimmanent: Die Krankenkassen sind gehalten, unter einander im Wettbewerb zu stehen. Damit fehlen die Vorgaben und Anreize, gemeinsam und einheitlich zu handeln. Dies tun sie nur, wenn sie - wie bei der Abrechnung im Datenträgeraustausch, im DTA – einen eigenen Vorteil davon haben und auch noch dazu gesetzlich angehalten sind. Ansonsten hat jede Krankenkasse ihr eigenes System der Bearbeitung der Genehmigungen, der Rechnungsbearbeitung, der Rückmeldung et cetera. Alle Anregungen und Forderungen der Verbände, sich auf ein einheitliches gemeinsames System zu einigen, schlagen fehl - weil die Krankenkassen nicht müssen! Und dazu muss der Gesetzgeber sie zwingen.“
Autor: Hans-Georg Sausse