Wie verändert digitales Arbeiten die Pflege – und wie kann es Pflegekräfte entlasten? Ein Gespräch mit Karsten Glied, Geschäftsführer der Techniklotsen GmbH und Experte für Digitalisierung im Gesundheitswesen, über die Angst in den Köpfen der Entscheider, über erste Schritte und Stolpersteine bei der Digitalisierung von Kliniken und Pflegeeinrichtungen.
Herr Glied, beginnen wir mit einer ganz allgemeinen Frage: Was bedeutet Digitalisierung in der Pflege?
Wenn ich sage, wir müssen Digitalisierung in die Pflege bringen, lautet die Antwort meist: Aber Pflegeroboter sind doof. Doch genau darum geht es gar nicht. Wir müssen unterscheiden zwischen der Arbeit, die Pflegekräfte nah am Menschen wirklich machen sollten und die wir in unserer europäischen Kultur auch nicht ersetzen wollen – und anderen Aspekten, die sich digital tatsächlich besser abbilden lassen. Das Ziel dabei ist, mehr Pflegekräfte zu gewinnen und denen, die wir bereits haben, mehr Zeit für die Arbeit am Bett zu geben.
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Welche Aspekte lassen sich heute schon digital abbilden?
Das kann beispielsweise eine Unterstützung bei der Medikamentengabe durch Blistering sein. Digitalisierung kann auch die Sicherheit erhöhen, indem sie eine bessere sensorische Überwachung bereitstellt und die Nachtwache unterstützt. Ein solches System meldet etwa, wenn jemand aus dem Bett gefallen ist – der vielleicht selbst die Klingel nicht mehr erreicht. Je mehr ein Haus mit Kommunikationstechnik und gegebenenfalls auch Sensorik ausgestattet ist, umso sicherer können Pflegekräfte arbeiten.
Welche Vorteile bringt die Digitalisierung der Pflegedokumentation?
Wenn ich heute noch mit papierbasierter Pflegedokumentation arbeite, etwa im ambulanten Bereich, ist es doch häufig so, dass ich zwar total viel dokumentiere, um dem Gesetz zu genügen. Abweichungen fließen unter Umständen aber gar nicht in die Pflegeplanung ein, weil sie schlicht überlesen werden. Das ist in einer digitalen Pflegedokumentation komplett anders: Da ploppen Veränderungen zwischen Soll und Ist beim Schichtwechsel im Übergabeplan automatisch auf und kommen auch bei der Pflegeplanung im System automatisch wieder hoch.
Ein weiterer typischer Prozess in der Pflege, der sich durch Digitalisierung verändert?
Nehmen wir die Gestaltung von Dienstplänen: Da geht es beispielsweise um die Fragen, ob die Dienstplanung tarifkonform ist, ob es faire Tauschportale für Dienste gibt und wie wir das Holen aus dem Frei verringern, indem etwa Springer-Pools aufgebaut werden. Mit entsprechender Software und Apps auf dem Handy können wir hier einen Riesenschritt nach vorn machen. Letztlich geht es geht immer darum: Kann ich meinen Job sicherer machen, kann ich ihn geregelter machen und kann ich mehr bei den Menschen sein.
Wie wandelt sich damit die Arbeit der Leitungskräfte?
Auch für die Bereichsleitung macht es doch einen Unterschied, ob sie bei der Dienstplanung noch mit Excel arbeitet oder ob ihr ein gutes Programm ermöglicht, die Daten aus dem Vormonat einfach zu übertragen, dabei Urlaubsmeldungen automatisch zu berücksichtigen und das Ganze auf eine Mitarbeiterplattform zu stellen. Im System können die Pflegekräfte dann gegebenenfalls Tauschvorschläge machen, die von der Leitung nur noch abgenickt werden müssen.
Wo sehen Sie denn derzeit das größte Defizit in der Digitalisierung der Pflege?
Die Politik und auch größere Teile der Sozialwirtschaft wollen gar keine digitalen Antworten hören. Stattdessen überwiegt die Angst, dass andere „menschliche“ Forderungen in den Hintergrund treten könnten, wie etwa die Forderung nach besserer Bezahlung oder nach mehr Pflegekräften in den Einrichtungen.
Es ist sehr schade, dass das Thema Digitalisierung diesem Wettbewerb ausgesetzt ist. Denn natürlich wollen wir mehr Pflegekräfte gewinnen und dazu beitragen, den Fachkräftemangel zu beheben – aber für den Fall, dass uns das nicht gelingt, müssen wir doch die Chancen nutzen, diejenigen zu entlasten, die den Job heute noch machen wollen. Ihre Arbeitswirklichkeit müssen wir verbessern und attraktiver machen.
Lesen Sie auch, wie Digitalisierung die Vitalzeichenmessung vereinfachen und sicher – ohne Notizzettel et cetera – dokumentieren kann in unserem Artikel Hier müssen Pflegekräfte keine Vitalzeichen dokumentieren
Hakt es auch in den Kliniken oder Pflegeeinrichtungen selbst?
Ja, dort haben wir vielfach riesige bauliche Infrastrukturprobleme. Das ist über Jahre vernachlässigt worden, weil man die Digitalisierung nicht ernst genommen hat. Man hat sich nicht die Frage gestellt, wie die Verkabelungs- und Wlan-Situation in einer Einrichtung idealerweise sein sollte, sondern hingenommen, dass nichts vorhanden war und sich in dieser Mangelwirtschaft eingerichtet. Das ist in der Corona-Krise auch nicht zu heilen: In Altenheimen sind beispielsweise Videokonferenzen kaum möglich, weil es einfach kein Wlan gibt und der verfügbare Telekomanschluss nicht breitbandig genug ist, um das hinzubekommen. Das heißt, wenn die Digitalisierung nicht an den Ort kommt, an dem die Menschen sie brauchen, und wenn die Leistungsfähigkeit der IT aufgrund der Rahmenbedingungen so miserabel ist, dass auch die beste Software nicht ruckelfrei funktionieren kann, dann werden wir niemals Akzeptanz für die Digitalisierung finden.
Wenn ein Haus trotz solcher Lücken in den Datennetzen digitaler werden möchte: Wie ginge das mit einfachen, überschaubaren Maßnahmen?
Jede Einrichtung sollte ein digitales Zielbild haben, das sie erreichen will, und daraus zunächst ihre Defizite ableiten. Eine schrittweise Erneuerung der IT-Infrastruktur ist ja meist realistischer, als gleich komplett neu zu bauen. Dafür braucht man aber einen Plan: Wenn Sie beispielsweise einen Wasserrohrbruch haben, müssen Sie wissen, welche Verkabelung bei dieser Gelegenheit gleich mit verlegt werden kann. Manchmal lassen sich auch vorhandene TV-Kabel oder alte Telefonleitungen als Datennetz verwenden.
Was wäre dann der nächste Schritt?
Sie können dann den Rechner, der heute ohnehin auf jeder Station üblich ist, mit Tablets und Smartphones als Eingabegeräte für die Pflegekräfte ergänzen und vernetzen. Das ist kein hoher Aufwand. Im Idealfall ist die installierte App zudem offline-fähig. Das heißt, sie synchronisiert die Daten in dem Moment, in dem sie Wlan hat. Wenn die Pflegekraft also in einen Bereich der Klinik kommt, in dem kein Netz vorhanden ist, kann sie dennoch weiter mit den zwischengespeicherten Daten arbeiten und vor allem auch weiter Eingaben machen. Auf diese Weisen entfallen Zettelwirtschaft und Übertragungsfehler.
Haben Sie einen weiteren Tipp für diejenigen, die ganz grundsätzlich wissen möchten, was digital möglich ist?
Es hilft schon, einfach zu schauen, was die anderen machen. Wo steht beispielsweise das Nachbarkrankenhaus in Sachen Digitalisierung? Es gibt ja in der Branche auch Leuchttürme, die zeigen, was möglich ist. Ich würde zum Beispiel das Universitätsklinikum Schleswig-Holstein in Kiel besuchen – dort sieht man einfach mal, was geht. In Bielefeld hat Bethel ein Altenheim gebaut und sich dabei auf die Fahnen geschrieben, alle Innovationen auszuprobieren. Außerdem rate ich jedem, sich auch im Ausland umzusehen, beispielsweise in den Niederlanden.
Wie viel Skepsis begegnet Ihnen denn auf der Seite der Pflegekräfte – denjenigen, die am Ende mit den digitalen Systemen wirklich arbeiten?
Häufig sind es die Einrichtungsleitungen, die zunächst sagen: Solche Änderungen können wir gerade unseren älteren Mitarbeitern nicht zumuten. Wenn sie es dann doch umsetzen, heißt es aber meist: War gar kein Problem. In den Köpfen der Entscheider ist die Angst vor dem Unbekannten oft viel größer als bei den Pflegekräften. Der Sprung, Digitalisierung zu nutzen, ist ja mit den Smartphones bei vielen im Privatleben auch schon angekommen.
Der Standard bei den neuen Systemen für die Pflege unterscheidet sich davon kaum: Es geht auch hier um Apps, das heißt, um kleine überschaubare Programme oder Fenster – niemand soll sich durch komplizierte Menüs klicken oder sich 26 Kurzbefehle merken müssen, um seinen Job machen zu können. Stattdessen müssen die Pflegekräfte digital weniger Eingaben machen, vieles wird ihnen vorgegeben und sie können dann kontrollieren, ob alles stimmt – und das bedeutet letztlich auch weniger Bürokratieaufwand.
Falls aber etwa auf einer Station die Digitalkompetenz nicht bei allen Pflegekräften gleich hoch ist: Was empfehlen Sie, um einen einheitlichen Stand zu erreichen?
Einrichtungen können zum Beispiel jene Kollegen, die schon eine höhere Digitalkompetenz haben, als Botschafter für das Thema benennen – und ihre Namen über das schwarze Brett bekanntmachen oder ihnen ein Schildchen für ihre Arbeitskleidung geben, das signalisiert: Ich bin jemand, der euch gern Tipps liefert – kommt zu mir, ich bin euer interner Coach und helfe euch bei den ersten Schritten.
Solche Botschafter brauchen wir natürlich auch, weil es immer eine gewisse Fluktuation gibt. Wie schön wäre es also, wenn neue Mitarbeiter oder Aushilfskräfte sofort erkennen könnten, wer in der Einrichtung der Digitalcoach ist und an wen sie sich mit Fragen wenden können, ohne dass der andere genervt die Augen verdreht.
Reicht das aus, um die Fluktuation auf einer Station aufzufangen?
Nein, dazu brauchen wir auch E-Learning: Schulungsvideos und Plätze, an denen sich die Pflegekräfte solche Videos ansehen können, interne Wikis und Handbücher, die praxisnah mit Screenshots der Programme aufbereitet sind. Schulungsvideos lassen sich übrigens mit ganz simplen Programmen selbst produzieren und einsprechen. Das heißt, wenn ich als PDL immer das Gleiche gefragt werde, kann ich das doch einmal aufnehmen und den Kollegen sagen: An deinem ersten Tag setzt du dich hin und siehst dir das alles an, danach kannst du mir Fragen stellen. Und wenn du dann auf die Station gehst, ist dort auch eine Kollegin, die dir als Digitalcoach weiterhilft.
Welche Rolle sollte die Digitalkompetenz denn in der Ausbildung von Pflegekräften spielen?
In der Ausbildung müssten wir vor allem eine fachliche Verknüpfung der Themen erreichen. Denn eine Trennung in IT-Unterricht und fachlichen Unterricht hilft praktisch niemandem weiter. Was wir stattdessen brauchen, sind Lehrkräfte, die beispielhaft vermitteln, wie Abläufe in verschiedenen Einrichtungen aussehen können: dass etwa die Pflegekraft in manchen Kliniken selbst Medikamente zuteilen wird, andere Krankenhäuser hingegen digital unterstütztes Blistering nutzen. Auf beide Szenarien müssen die jungen Pflegekräfte vorbereitet werden.
Und wo werden wir aus Ihrer Sicht in zwei Jahren stehen – was wird dann zum digitalen Standard in der Pflege gehören?
Ich denke, dass die Hemmnisse durch schlechte IT-Infrastrukturen in zwei Jahren weg sein werden und Wlan in allen Einrichtungen zum Standard gehören wird. Darüber hinaus müssen aber die Kassen endlich anerkennen, dass ein vernünftiger IT-Betrieb heute essenziell ist, um unter den gegebenen Personalstrukturen und Kostensätzen halbwegs menschenwürdig in der Pflege arbeiten zu können.
Spätestens nach Corona muss klar sein, dass eine gute digitale Infrastruktur und Unterstützung für diesen Berufsstand genauso wichtig sind wie für alle anderen. Das müssen die Kostenträger dringend anerkennen und künftig als eigenen Teil in der Kalkulation berücksichtigen.
Autorin: Lin
Zur Person
Karsten Glied ist Geschäftsführer der Techniklotsen GmbH, die IT-Lösungen insbesondere für die Sozial- und Gesundheitswirtschaft entwickelt. Das Unternehmen unterstützt die im Frühjahr 2020 gestartete Initiative „Pflege-Digitalisierung“ (pflege-digitalisierung.de) des Digitalverbandes Finzos (Fachverband für Informationstechnologie in Sozialwirtschaft und Sozialverwaltung). Das Ziel der Initiative: die Digitalisierung in deutschen Gesundheits- und Sozialeinrichtungen voranbringen und dafür sorgen, dass Einrichtungen flächendeckend mit einer digitalen Infrastruktur, mit Digitaltechnologien und Assistenzsystemen ausgestattet werden.