Krankenpfleger fangen sich ein blaues Auge ein, weil es dem Patienten nicht schnell genug geht, Ärztinnen werden beleidigt, weil dem Patienten deren Hautfarbe nicht gefällt – fast jedes Notaufnahmen-Team kann über Fälle dieser Art berichten. Auch auf den peripheren Stationen und in Pflegeheimen werden Patienten, Bewohner und Angehörige aggressiv, wenn auch viel seltener als auf der Notaufnahme.
Schlagen, Schubsen, Treten – Hälfte aller Pflegekräfte hat es erlebt
Jede zweite Pflegekraft hat schon körperliche Gewalt wie Schlagen, Schubsen oder Treten während der Arbeit erlebt, wie eine Umfrage der Berufsgenossenschaft für Gesundheit und Wohlfahrtspflege (BGW) aus dem Jahr 2021 ergeben hat. Immer mehr Krankenhäuser haben deshalb in ihrer Notaufnahme einen Wachschutz installiert, einige bieten inzwischen regulär Deeskalationstrainings an – wie das CaritasKlinikum Saarbrücken, an dem der Deeskalationstrainer und Kollegiale Erstbetreuer Maik Burgardt arbeitet. Jeder Mitarbeiter kann dort an einem zweitägigen Deeskalationstraining des Experten teilnehmen. Für pflegen-online hat Maik Burgardt die wichtigsten Tipps zusammengefasst.
1. Aggressionen nicht persönlich nehmen
Jobportal pflegen-online.de empfiehlt:
Machen Sie sich bewusst, dass der Ausbruch ein Ausdruck der momentanen Notlage des Patienten ist und nichts mit Ihnen als Person zu tun hat.
2. Beziehung zum aggressiven Patienten aufbauen
Versuchen Sie den aufgebrachten Patienten (oder Angehörigen) so lange wie möglich im Gespräch zu halten. Hören Sie ihm aufmerksam zu und nehmen Sie sich Zeit. Fragen Sie beispielsweise nach, was ihn wütend macht, und zeigen Sie ihm, dass Sie seine Bedürfnisse ernst nehmen. Erkennen Sie die Meinung des Patienten an und spiegeln Sie ihm dies mit Sätzen wie: „Ich merke das ist gerade alles sehr schlimm für Sie“ oder „Sie sind gerade sehr verzweifelt“.
3. Lockere, nicht bedrohliche Körperhaltung einnehmen
Das bedeutet:
- nicht frontal dem Patienten gegenüberstehen
- hektische und auffällige Bewegungen und Gesten vermeiden
- die Arme nicht vor der Brust verschränken
- Hände nicht in die Hüften stemmen
- sich nicht breitbeinig direkt vor den Patienten stellen
- Hände nicht in Kittel oder Hosentasche stecken, sondern immer offen oder bittend, am besten eher oben halten zwischen Bauchnabel und Brust, um sich vor einem eventuellen Angriff schützen zu können.
4. Sicherheitsabstand zum Patienten wahren
„Deutet etwas daraufhin, dass der Patient gleich handgreiflich wird, ist es besonders wichtig, einen Sicherheitsabstand einzuhalten“, rät Deeskalationstrainer Burgardt.
5. Ausreden lassen
Hören Sie dem Patienten zu, lassen sie ihn ausreden, sprechen Sie selbst nicht zu laut. Achten Sie auf Ihre Wortwahl und senden Sie Ich-Botschaften á la: „Ich merke, Ihnen geht es nicht gut …“ oder „Ich empfinde, dass …“
6. Niemals sagen: „Beruhigen Sie sich!“
„Jetzt regen Sie sich mal nicht so auf!“ „Jetzt beruhigen Sie sich mal!“ Mit diesen Sätzen gießen Sie nur Öl ins Feuer. Stellen Sie sich nur einmal vor, Sie regen sich Ihrer Meinung nach zurecht auf – und dann heißt es: „Nun beruhigen Sie sich mal!“ Wie fühlen Sie sich? Ja, genau: nicht ernst genommen. Aus einer solchen Bemerkung spricht Herablassung und Vorwurf. „Mit diesem Satz kritisiert man das Verhalten des Gegenübers und deutet an, dass es kein Recht hat, sich so aufzuregen“, sagt Deeskalationstrainer Burgardt.
Wird die Pflegekraft dann noch etwas lauter, weil der Patient sich – provoziert von der Beruhigen-Sie-sich-Bemerkung – noch mehr aufregt, kann die Situation leicht eskalieren. „Statt den Patienten davon zu überzeugen, dass alles gut wird, schafft man mit diesem Satz ein neues Problem: Der ohnehin schon aufgebrachte Patient muss sich verteidigen.“
Besser ist die Emotionen bzw. den Gefühlszustand des Gegenübers spiegeln: „Hallo Herr Mustermann, ich merke, Sie sind gerade sehr wütend …sauer…angespannt…traurig…verzweifelt sind.“
7. Ein Lächeln wirkt Wunder!
Aber achten Sie darauf, dass Sie den Patienten nicht belächeln.
8. Sich selbst und andere in Sicherheit bringen
Holen Sie sich Hilfe, wenn der Patient handgreiflich wird, bringen Sie erst die anderen Patienten in Sicherheit, dann sich selbst. Körperliche Intervention ist nur im äußersten Notfall erlaubt. Ist eine Flucht nicht möglich, kann es für den Moment helfen, eine Barriere zwischen sich und den Patienten aufzubauen. Sie können beispielsweise hinter einem Tisch oder Stuhl Schutz suchen.
9. Polizei oder Sicherheitsdienst rufen
Sobald ein Patient anfängt, gewalttätig zu werden, heißt es: Türen absperren und die Polizei oder den Sicherheitsdienst rufen.
10. Randalierer nicht zurückhalten
„Ein Patient sollte niemals mit Kraft an der Tür zurückhalten werden, wenn er die Station partout verlassen will“, rät Maik Burgardt.
11. Vorfall melden
Egal wie groß oder klein der Vorfall war, Sie sollten ihn unbedingt melden. Jeder Mensch hat eine eigene Grenze – was für den einen brachiale Gewalt ist, empfindet der andere als verbale Attacke.
Bei traumatisierenden Erlebnissen suchen Sie am besten das Gespräch mit einem kollegialen Erstbetreuer – das kann Sie entlasten. Eine kollegiale Erstbetreuung ist ein unverzichtbarer Beitrag zur Unfallprävention am Arbeitsplatz, um Langzeitausfälle zu minimieren.
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Was Achtsamkeit mit Deeskalation zu tun hat
Ruhig bleiben – das ist die Voraussetzung für Deeskalation. Doch das gelingt nicht leicht, wenn man ohnehin gereizt und gehetzt ist. Deshalb ist Deeskalationstrainer Maik Burgardt überzeugt: „Deeskalation fängt bei einem selbst an. Achtsamkeit mir selbst gegenüber ist extrem wichtig. Dazu gehört auch, sich konsequent regelmäßig Auszeiten zu nehmen.“
Das fängt damit an, dass man auf alltägliche Dinge achtet, etwa:
- auf Pausen und Dienstzeiten zu achten
- in brenzligen Situationen den Raum kurz zu verlassen und tief durchzuatmen, um sich wieder ins Gleichgewicht zu bringen
- eigene Rituale, um den Stresslevel abzubauen: Yoga, Meditieren, Radfahren – was auch immer. Wichtig sei in jedem Fall, die Arbeit dort zu lassen, wo sie ist, und Probleme nicht mit nach Hause zu nehmen. Burgardt: „Wenn ich mich nach dem Dienst umziehe, mache ich mir jedes Mal bewusst, dass ich die Ereignisse des Tages mit meinem Kasack in der Klinik lasse.“
Podcast-Tipp
BGW-Podcast Herzschlag zum Thema „Sexuelle Belästigung und Gewalt am Arbeitsplatz“
Autorin: Alexandra Heeser