Dieser Artikel erschien zuerst im April 2020 und wurde am 17. Februar 2021 aktualisiert.
Normalität ist jetzt das größte Ziel. Während das Coronavirus die Welt durcheinander bringt, müssen alle, die mit Menschen mit Demenz arbeiten, vor allem eines: Ruhe bewahren und Tempo rausnehmen. „Das gilt für jeden einzelnen im Team“, betont Monika Hammerla, Vorstandsmitglied der Deutschen Expertengruppe Dementenbetreuung (DED): „Menschen mit zunehmender Demenz können das aktuelle Szenario nicht einordnen – sie haben jetzt in erster Linie Angst.“
„Das Gefühl wird nicht dement“
Die nahezu unvermeidliche Anspannung des Personals übertrage sich nonverbal auf die Bewohner – „das Gefühl wird nicht dement“, sagt Hammerla. Auch wenn sie es nicht erklären können, „die Bewohner spüren den Druck, unter dem alle stehen. Dafür haben sie ganz feine Antennen“. Ungewohnte Abläufe, Mundschutzmasken und Besuchsverbote tun ihr Übriges.
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Bezugsperson wird auch hinter Mundschutz erkannt
Umso wichtiger sei es, dass zumindest die Bezugspersonen dieselben bleiben. „Sie werden von Menschen mit Demenz auch hinter einer Maske an ihrer Stimme oder der Körperhaltung erkannt“, betont Hammerla. Die langjährige Fachpflegekraft für Gerontopsychiatrie und geriatrische Rehabilitation, die auch Angehörige und Heime berät, weiß von Einrichtungen, die angesichts der Corona-Pandemie deshalb zwei separierte Bereiche eingerichtet haben.
1. organisatorischer Tipp: zwei Bereiche
Und zwar gibt es in einigen Einrichtungen einen Bereich für die Bettlägerigen und eine Hausgemeinschaft für die motorisch unruhigen Bewohner, die „Läufer“. Die Pflege- und Betreuungskräfte, die nur in diesem Bereich arbeiten, werden natürlich regelmäßig getestet. Beide Bereiche betreten sie durch Schleusen, in denen sie sich auch umziehen.
2. organisatorischer Tipp: längere Schichten
Außerdem haben sich die Mitarbeiter nach Befragung schnell auf längere Schichten geeinigt – damit die Bezugspersonen möglichst wenig wechseln.
3. Tipp: Rituale beibehalten
Auch gewohnte Rituale sorgen für das Gefühl von Normalität: Das Morgengebet, das bekannte Lied von einer CD, oder das tägliche Spiel mit einem Luftballon – sie geben Sicherheit.
4. Tipp: Raus in den Garten
Hat ein Haus einen angegliederten Garten, sollten die Bewohner ihn weiter nutzen dürfen. „Frische Luft entspannt – auch die Pflege – und das ist ein Segen.“
5. Tipp: schöne Momente schaffen
Zudem komme es gerade jetzt darauf an, den Bewohnern beispielsweise durch Musik, gutes Essen oder Gedichte schöne Momente zu schaffen – „immer mit validierender Haltung“, betont Hammerla. Was die Bewohner sagen, wird bekräftigt und freundlich für wahr erklärt.
Widerstand aufzubauen, ist tabu. Stattdessen gelte: Laufen lassen. „Für Menschen mit fortgeschrittener Demenz existieren keine Regeln mehr. Sie leben in ihrer eigenen Welt – und das sollten sie auch dürfen – gerade jetzt.“. Hilfreich seien jetzt auch regelmäßige, konsequent durchgeführte Einzelbetreuungen nach Corona-Standard, in der Bewegungsübungen und Stimulierungen für alle Sinne zu finden sind.
6. Tipp: Nicht nachlässig werden, Hygieneregeln beachten
Was Pflegekräfte auf keinen Fall tun sollten? „Ungeschützt arbeiten“, mahnt Hammerla: „Niemand sollte den Helden spielen.“ Zu groß sei die Gefahr, dass das Virus ausgerechnet durch Beschäftigte in ein Heim gelangt. Tests sind mittlerweile Routine und Standard. Hygienemaßnahmen sollten dennoch regelmäßig geschult werden. Erst wenn jeder diese Maßnahmen verinnerlicht und automatisiert hat ist ein Stück Sicherheit gewonnen.
7. Tipp: Auch im Heim gilt: Abstand halten
Dazu gehöre auch, möglichst einen Abstand von 1,5 Metern zu halten – auch wenn das einem verständlichen Impuls entgegenstehe, „schließlich möchten sich gerade verängstigte Bewohner gerne anschmiegen“. Hand in Hand gehen oder Hände halten ist erlaubt. Danach die Hände waschen und desinfizieren. Auch Bewohner sollten die Möglichkeit haben die Hände regelmäßig mit Anleitung der Pflege- oder Betreuungskraft zu waschen.
8. Tipp: Setzen Sie sich schräg zum Bewohner, atmen Sie ihn nicht an
Ganz besonnen, achtsam und mit freundlich zugewandter Sprache sowie nach den Regeln für validierenden Umgang und Hygiene zu arbeiten, sei das Gebot der Stunde, betont Hammerla. „Ich würde mich derzeit zum Beispiel auch mit Mundschutz nicht mehr direkt gegenüber, sondern immer schräg setzen und woanders hin atmen. Und sobald es Anzeichen von Husten oder Schnupfen gibt, müssen sich Pflegekräfte schützen.“ Den Bewohnern mit fortgeschrittener Demenz, Masken oder Schutzkleidung anzulegen, sei ohnehin nicht möglich: „Sie würden sich wehren.“
Worst Case: Corona-Stationen im Krankenhaus
Die dringendste Aufgabe bleibt derweil, das Virus aus den Heimen fernzuhalten.Infizierte Menschen mit Demenz zum Aufenthalt in ihren Zimmern zu verpflichten, sei ein großes Problem, sagt Hammerla: „Da würden die Heime wahrscheinlich an ihre Grenzen stoßen.“ Deshalb werde für den Fall der Fälle über Coronastationen nachgedacht, um die nicht infizierten Bewohner schützen zu können. Eine Verlegung ins Krankenhaus jedenfalls sei unbedingt zu vermeiden: „Das ist der Worst Case, dort bleibt häufig nur der Einsatz von Psychopharmaka, um die Patienten ruhigzustellen.“
9. Tipp: Ermuntern sie Angehörige, Briefe zu schreiben
Da durch die rigorosen Besuchsverbote der Pflegeheime derzeit der persönliche Kontakt zu Angehörigen wegfällt, ergibt sich ein weiteres Problem. Es ist nicht auszuschließen, dass Familienmitglieder nach einer langen Besuchspause noch schwerer wiedererkannt werden. Doch der Kontakt muss zumindest nicht ganz abreißen. „Ich rate schon lange, Briefe mit vielen biografischen Bezügen zu schreiben. Viele Menschen mit Demenz können ja noch lesen, und ansonsten lesen eben die Betreuungsassistenten vor“, sagt Monika Hammerla: „Ein Brief mit einer persönlichen Ansprache ist sehr hilfreich, und das wird auch gut angenommen.“. Zusätzlich können z.B. auch Familienbilder auf die Maße 15x20cm großkopiert und laminiert werden. Auf der Rückseite sollte der Namen der Personen stehen, damit die Betreuungskraft eine gute Kontaktaufnahme anbahnen kann. Viele Heime hätten mittlerweile Briefkästen aufgehängt, in die Angehörige ihre Schreiben und Bilder einwerfen
können.
10. Tipp: Von Familientreffen am Fenster abraten
Bei persönlichen „Treffen“ an Türen, Fenstern oder Balkonen ist Hammerla dagegen eher skeptisch: „Aus den Augen, aus dem Sinn, ist das eine, doch wenn die Bewohner ihre Angehörigen sehen, dann wollen sie auch zu ihnen raus.“ Dieser Wunsch wiederum bedeute eine zusätzliche Belastung für die Pflege und Betreuung – die Bewohner nach einem solchen „Treffen“ wieder in die Gemeinschaft zu holen, sei mit viel Kreativität und Energie verbunden. In der jetzigen Krisenzeit stehe an erster Stelle, Hygiene und Validation umzusetzen, betont Hammerla, „und darauf zu vertrauen, dass Krisen ein Team zusammenschweißen“.
Autor: Jens Kohrs